Jungwirth hat nur eine ungefähre Vorstellung davon, wie es ihrer Mutter in den letzten Tagen geht, in "Meine Mutter, das Alter und ich" (Kremayr & Scheriau, 2020) hat sie über Pflege und Krankheit geschrieben.
Getty Images/iStockphoto

Fünfzehn Jahre ist es her, dass meine Mutter die Diagnose Morbus Parkinson bekommen hat. Ein Schock, der all die Jahre anhalten sollte. "Man stirbt nicht an Parkinson, man stirbt mit Parkinson": Auch dieser Satz begleitet uns in all diesen Jahren. Erst hat sich die Krankheit nur zögerlich gezeigt. Die Mutter ist relativ jung und körperlich fit. Der "Rigor", die Versteifung der Muskeln, stört jedoch schnell die gesamte Balance, die des Körpers, aber auch die des Geistes. Mit den Jahren braucht sie immer mehr Unterstützung, die wir ihr als große Familie anfangs noch geben können, ohne professionelle Unterstützung. Dann wird es schwierig bis unmöglich. 24-Stunden-Pflegerinnen ziehen ein. Die Betreuerinnen sind mehrheitlich bemüht. Meine Mutter ist es nicht.

Langsames Verschwinden

Ihr Leben auf engem Raum mit fremden Frauen teilen zu müssen, das lässt sie verzweifeln. Sie, eine früher stets starke Persönlichkeit, respektiert und selbstbestimmt, verschwindet immer mehr. Das spürt und sieht sie und lässt uns Kinder hilflos zurück. Sie will nicht mehr leben.

Der assistierte Suizid ist seit 2022 in Österreich erlaubt. Das Gesetz ist gut, aber voller bürokratischer Hürden und ohne psychologische Beratung und Betreuung. Das Gesetz lässt Betroffene letztlich ganz allein.

Innerhalb der Familie führen wir unzählige Gespräche mit der Mutter. Ich bemühe mich, ihren Todeswunsch zu verstehen, sage Sätze wie "Aber sind wir, deine Kinder, Enkel, Urenkel, nicht genug Freude?" Heute, in der Nachbetrachtung, scheint mir diese Frage naiv, und ich denke: Kranke, Sterbenskranke haben oft einen Egoismus, der für Außenstehende nicht nachzuvollziehen ist.

So weit, so gut

Zwei, drei Stunden am Tag ist jemand von uns bei ihr. "Die restlichen 20 Stunden liege ich allein da, voller Angst und Schmerzen", sagt die Mutter, "es ist würdelos, so leben zu müssen." Schon als junge Frau hat sich meine Mutter stark für das Recht auf Selbstbestimmung eingesetzt. Als die Fristenlösung in Österreich erstmals debattiert wird, ist sie als Aktivistin ganz vorn dabei. Ab 1975, als der Schwangerschaftsabbruch bis zur zwölften Woche gesetzlich erlaubt wird, leitet sie das Ambulatorium am Fleischmarkt, die erste Institution dieser Art bundesweit. Trotz ständiger Demonstrationen, täglicher Mahnwachen und auch persönlicher Angriffe verteidigt sie im Ambulatorium bis zu ihrer Pensionierung dieses Recht der Frauen.

Als erstmals vom Sterbehilfegesetz die Rede ist, findet sie kurz wieder zu ihrer alten Stärke und wartet auf die parlamentarische Durchsetzung. Der Wunsch, ihr Leben bewusst zu beenden, wird immer konkreter, und sie bittet mich um Unterstützung. Ich bin bereit dazu, aber anfangs ist das alles noch sehr theoretisch für mich. Die Bedingung meines Bruders: Die Mutter muss selbst Initiative ergreifen. Er hat Angst um mein Seelenwohl, deswegen muss der erste Schritt von ihr kommen.

Selbstständige Einnahme

Das Gesetz sieht klar vor: Zwei unabhängige Ärzte geben nach persönlichen Gesprächen und Einsicht in Krankenakten ein Gutachten ab. Nach drei Monaten beglaubigt ein Notar bei einem Besuch vor Ort diese Gutachten. Dann bekommt eine Person des Vertrauens einen Code, der in einer bestimmten Apotheke abgegeben werden soll. Der Apotheker bestellt das Mittel und händigt es nur dieser einen Person aus. Die Sterbewillige muss es selbstständig einnehmen.

So weit, so gut.

Wir leben in Wien. Aber auch in der österreichischen Hauptstadt ist es schwierig, Ärzte, Notare und Apotheken zu finden, die sich bereiterklären, dieses Gesetz zu unterstützen. Wie es in den Bundesländern, auf dem Land, aussieht, kann ich mir gar nicht vorstellen.

Eine körperlich sehr eingeschränkte Person tut sich schwer, all diese Namen, Nummern und Wege allein zu finden. Zuerst fragt die Mutter beim Hausarzt und bei ihrem langjährigen Neurologen an. Beide lehnen jegliche Hilfe ab.

Dann diktiert sie mir einen Brief an die Wiener Ärztekammer mit Erklärung und Bitte um Hilfe. Wochen vergehen ohne Antwort. Ich schreibe an den Verein für Sterbehilfe, naiv im Gedanken, wer sonst würde helfen, wenn nicht die. Doch darf man dort von Gesetzes wegen keine Ärztelisten ausgeben, das erfahre ich in einer kurzen Antwortmail.

Ich trete in Kontakt mit dem ASCIRS-Team, einem Berichts- und Lernsystem der Palliativgesellschaft. Dort soll mehr über die Praxis der Suizidbeihilfe gesammelt werden. Ich fülle ein Anfrageformular aus und trete in Mailkontakt mit einer Mitarbeiterin. Dort zeigt man sich sehr hilfsbereit, aber konkrete Antworten bekomme ich auch dort nicht. Der Grund: Es gibt kaum Rückmeldungen nach einem assistierten Suizid.

Eine Liste williger Ärzte

Meine Mutter hat die Liste der willigen Ärzte dann doch bekommen, nach mehrmaligem Urgieren bei der Ärztekammer, die schließlich den Patienten-Ombudsmann vorschlägt. Und sie ruft auch selbstständig den ersten Arzt an. Der kommt schnell, und das Gutachten ist eindeutig: "Eine chronische, sich stets verschlechternde Krankheit, starke Schmerzen und der klar kommunizierte Wunsch, dem Leben ein Ende zu setzen."

Der zweite Arzt ist eine Empfehlung des ersten, mit der gleichen Feststellung: "Ohne Druck von außen, psychisch stabil und eindeutig im Todeswunsch." Beide Mediziner weisen darauf hin: Ein Arzt darf und wird nicht beim "letzten Akt" anwesend sein. Und nun heißt es warten. Drei Monate lang. In dieser Zeit verschlechtert sich ihr Zustand zunehmend. Sie verlässt kaum mehr das Bett. Sie glaubt nicht an das Ende, dass sie sich wünscht.

Die Gespräche mit ihr werden für mich zunehmend belastend. Einerseits will sie alles "für danach" vorbereiten, andererseits aber keine Abschiedsbesuche empfangen. Sie diktiert Listen mit Erledigungen, will alles geordnet zurücklassen.

Schwere Entscheidung

Ich habe nur eine ungefähre Vorstellung davon, wie es ihr in diesen letzten Tagen geht. Für uns alle ist es unbegreifbar, eine Dimension, die nicht erfassbar ist. Das Gesetz sieht keine Betreuung für die Betroffenen vor. Weder davor noch danach. Ich suche eine Traumapsychologin auf und schicke auch meine jüngere Tochter hin, die von Berufs wegen Erfahrung mit dem Sterben hat, aber den Todeswunsch der geliebten Großmutter schwer verkraftet. Meine älteste Tochter möchte keine professionelle Unterstützung, meine beiden Söhne leben auf einem anderen Kontinent. Ich versuche sie telefonisch in alle Schritte einzubinden. Die Haltung der beiden ist klar: Sie kennen ihre Großmutter als willensstarke Frau, und ihr jahrelanges Leiden soll sie beenden dürfen, wenn sie das möchte.

Was, frage ich mich, passiert in Familien, wenn die Haltung nicht so klar ist? Wie gehen Geschwister miteinander um, wenn der eine helfen will, die andere aber nicht und plötzlich Begriffe wie "Muttermörder" im Raum stehen? Und wie geht es Menschen, die vom Gesetz her sterben dürften und wollen, aber keine Unterstützung durch ihre Angehörigen haben? Und umgekehrt: Was ist mit dem von Gegnern des Gesetzes oft zitierten Missbrauch? Menschen, die das Gefühl vermittelt bekommen, nur noch lästig und teuer zu sein? Dieses Gesetz sieht Menschen nur als Individuum, vergisst dabei aber, dass wir alle in einem sozialen Gefüge leben.

Die drei Monate vergehen, und der nach einer langen Suche gefundene Notar gibt am Telefon klar zu verstehen: Wenn er irgendeinen Zweifel hat, wenn kein eindeutiges "Ja, ich will" zu hören ist, dann bricht er ab und geht.

Mutter ist verzweifelt. Sie kämpft mit klar artikulierten Worten. Die Parkinson-Krankheit beeinträchtigt auch zunehmend ihre Sprache. Ich übe mit ihr, Sätze verständlich zu formulieren, dabei krampft sich mein Herz zusammen. Die Situation scheint mir absurd. Und einmal mehr muss ich mich an einem Gedanken festhalten: "Es geht nicht um mich, es geht um sie, um ihren Wunsch." Ein letzter Liebesdienst, den ich ihr als Tochter erfüllen möchte.

Das Giftfläschchen in der Hand

Der Notarbesuch ist unspektakulär. Er kommt mit zwei Zeugen. Mein Bruder und ich müssen anwesend sein, wir nehmen unsere Mutter in die Mitte. Sie ist klar in ihrem Ansinnen. Die Sterbeverfügung hole ich am nächsten Tag vom Notar ab und gehe damit in die Apotheke. Es gibt eine Liste von einigen wenigen Apotheken, die sich dafür freiwillig gemeldet haben. Im Gegensatz zu Ärzten und Notar bekommt der Apotheker kein Honorar für die Ausgabe des Natrium-Pentobarbital, des tödlichen Schlafmittels. Der Chef ist bemüht, voller Mitgefühl und Verständnis, hat aber tagelang Probleme, die vorgeschriebene Bestellung elektronisch in das Apothekenregister zu bekommen. Er radelt für uns zur Apothekerkammer, um es vor Ort zu lösen. Niemand kann genau sagen, wann es ausgeliefert wird. Es vergehen wieder viele Tage.

Als es abholbereit in der Apotheke steht, werde ich vom Gesetz her mit dem Giftfläschchen in der Hand buchstäblich alleingelassen. Niemand sagt, wie, wo und wann es verabreicht werden soll. Was passiert, wenn es nicht "funktioniert", was kann alles während der Einnahme passieren? Ein Telefonat mit einem der Ärzte, die das Gutachten geschrieben haben, verläuft erfolglos. Es gab bisher keine einzige Rückmeldung, wie es bei anderen Betroffenen abgelaufen ist.

Fragen über Fragen

Wie genau soll sie es trinken? Was mache ich, wenn sie das Gift erbricht? Was passiert, wenn sie nur eine kleine Menge schluckt, einschläft und wieder und gegen ihren Willen aufwacht? Rufe ich einen Notarzt, der sie wiederbelebt?

Für medizinische Laien ist das alles ein unvorstellbarer Stress. Einzig der Apotheker nimmt sich Zeit. Er hat sich für mich bei einem Schweizer Sterbehilfeverein genau erkundigt und erklärt mir Schritt für Schritt, wie das hochdosierte Schlafmittel einzunehmen sei. (Ganz aufrecht sitzend ohne Absetzen zu trinken, nicht mit einem Strohhalm einnehmen und wichtig: eine Warnung, dass es sehr bitter schmeckt.) Davor muss sie ein Mittel gegen Erbrechen einnehmen, ähnlich dem bei Chemotherapien.

Irgendwoher kommt dann der Gedanke: Vielleicht reicht meiner Mutter schon das Wissen, dass es nun etwas gibt, womit sie ihr Leben beenden kann, wann sie möchte. Aber nicht heute, nicht morgen.

Es ist noch am selben Tag geschehen. Ich verbringe den Nachmittag mit ihr. Der letzte Nachmittag mit meiner Mutter. Wir haben in den vergangenen Monaten so viel geredet, dass es fast nichts mehr zu sagen gibt. Das Zimmer ist still, Kerzen brennen. Mein Bruder kommt am frühen Abend. Und dann geht es schnell. Ich fülle das Schlafmittel in ein Schnabelhäferl und reiche es ihr. Sie trinkt es in einem Zug leer und greift nach unser beider Hände. Sie sieht uns mit ihren großen Augen an. "Ich hab' euch so lieb", sagt sie, und Sekunden später schläft sie ein. (Katja Jungwirth, 10.7.2023)