Am Donnerstag wurde das westukrainische Lwiw wieder Ziel russischer Raketen.
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Kiew – Als Russland am 24. Februar 2022 seine Invasion in der gesamten Ukraine startete, herrschte in Moskau eine gehörige Portion Optimismus. Längst war dort die Vorstellung verbreitet, man könne in wenigen Tagen bis Kiew vorrücken – wenn man denn nur wolle. Auch so mancher strategische Zug der russischen Armee, etwa der Versuch, den Flughafen Hostomel nahe Kiew handstreichartig zu erobern und so einen Brückenkopf für die schnelle Einnahme der Hauptstadt zu schaffen, deutete auf die Erwartung eines raschen Sieges hin. 

Die Stärke der ukrainischen Armee und der Verteidigungswille der Bevölkerung haben aber nicht nur den Kreml überrascht, sondern auch den Westen – und vielleicht sogar die Ukrainerinnen und Ukrainer selbst. Der Samstag ist der bereits 500. Tag dieses Kriegs, der inzwischen zigtausende Tote auf beiden Seiten gefordert hat.

Ukrainische "Höchstleistung"

Auf sein baldiges Ende deutet indes immer noch nichts hin. Die russischen Truppen kommen nur stellenweise voran, haben aber entlang der aktuellen Front massive Verteidigungslinien aufgebaut, um ihrerseits die seit einem Monat laufende, ebenfalls schwierige Gegenoffensive der Ukraine zurückzuschlagen.

Dass es der ukrainischen Armee angesichts der etwa 1500 Kilometer langen Front, der massiven russischen Truppenpräsenz und der Verminung ganzer Landstriche überhaupt gelingt, da und dort Gelände von den Besatzern zurückzuerobern, ist für Wassyl Chymynez, den ukrainischen Botschafter in Wien, eine Höchstleistung: "Im Westen gibt es aber immer noch illusorische Erwartungen", sagte Chymynez kürzlich dem STANDARD – und knüpfte daran einen Appell an die Partner, auch für Waffenlieferungen: "Wir schätzen eure Hilfe. Aber jetzt muss mehr kommen."

Respekt vor Neutralität

Dass Russland den Krieg grundlos begonnen habe, grundlos Menschen töte, daran gebe es auch in der österreichischen Politik kaum Zweifel, glaubt Chymynez: "Österreich agiert auf Basis seiner Neutralität, und das respektiert die Ukraine natürlich. Niemand erwartet etwa, dass Österreich Waffen liefert."

Auch bei seinen Gesprächen mit der hiesigen Politik gehe es vor allem um humanitäre Hilfe: "Nach der Sprengung des Staudamms Kachowka zum Beispiel haben auch Länder und Kommunen schnell reagiert, haben Pumpen und Boote für die Evakuierung von Menschen zur Verfügung gestellt." Auch österreichische Hilfsorganisationen hätten rasch geholfen, etwa mit Systemen zur Trinkwasseraufbereitung.

"Österreich ist ein demokratisches Land, das sich klar zu den europäischen Werten bekennt", sagt Botschafter Chymynez. Er sei daher zuversichtlich, dass Wien auch weiterhin auf der Seite von Demokratie und Freiheit stehen werde. "Politiker, die Angst schüren und daraus politisches Kapital schlagen wollen, stellen sich allerdings eindeutig auf die Seite des Aggressors."

Angst und Erpressung

Das Verbreiten von Angst nämlich sei die Strategie des russischen Präsidenten Wladimir Putin, vor der Europa allzu lange, konkret bis Februar 2022, die Augen verschlossen habe. Die Annexion der Krim, der Krieg im Donbass, der Abschuss von MH17: Nichts davon habe wirklich Konsequenzen gehabt. Grund: Europa hatte Angst. "All das war aber nur Erpressung", so Chymynez. "Ein Mythos, den die Ukraine inzwischen voll entlarvt hat."

Wer, wie Putin, Straffreiheit erwarte, verliere den Bezug zur Realität. Deshalb müsse Russland auch zur Verantwortung gezogen werden, sagt der Botschafter und verweist auf das, was auf internationaler Ebene bereits erreicht wurde: auf den Haftbefehl gegen Putin etwa, den der Internationale Strafgerichtshof wegen des Verdachts auf die Deportation ukrainischer Kinder nach Russland erlassen hat; auf die Einrichtung eines Registers zur Dokumentation von Kriegsschäden; oder auf die Arbeit an der Einrichtung eines Sondertribunals für die Verbrechen im russischen Angriffskrieg.

Nato-Gipfel mit Selenskyj

In militärischer Hinsicht ist es international freilich die Nato, die sich seit Kriegsbeginn auf einer Gratwanderung befindet: Die Ukraine zu unterstützen, ohne in eine direkte Konfrontation mit Russland zu schlittern, so lautet die Devise. Im Vorfeld des Nato-Gipfels, der Dienstag und Mittwoch in der litauischen Hauptstadt Vilnius stattfindet, ist die Pulsfrequenz der Kiewer Diplomatie mit den Nato-Staaten noch einmal gestiegen: Präsident Wolodymyr Selenskyj reiste am Donnerstag von Bulgarien nach Tschechien, am Freitag weiter in die Slowakei und danach in die Türkei.

Auch nach Vilnius soll Selenskyj kommen. "Unser Gipfel wird eine klare Botschaft senden: Die Nato steht zusammen, und Russlands Aggression wird sich nicht rechnen", sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Freitag.

Der Ukraine soll in Vilnius eine Beitrittsperspektive gegeben werden. Wie diese aussehen soll, ist freilich offen. Klar scheint nur: Vor einem Ende des Krieges wird die Ukraine kein Mitglied der Nato sein. Das erwartet niemand. Nicht einmal Wolodymyr Selenskyj selbst. (Gerald Schubert, 8.7.2023)