Im April 2022 erstattet ein Ehepaar in einer Wiener Polizeiinspektion Anzeige, weil auf dem Facebook-Profil der Ehefrau beleidigende Kommentare geschrieben wurden. Ein bloßes Vergehen, das vor dem Bezirksgericht abgehandelt und mit Geldstrafe oder maximal einem Jahr Haft bestraft wird (§ 107c StGB "Fortdauernde Belästigung im Wege der Telekommunikation oder eines Computersystems").

Der amtshandelnde Polizist geht nicht den üblichen Weg einer Einvernahme der beiden Anzeiger und anschließender schriftlicher Ladung des Angezeigten. Nein, stattdessen handelt er wie bei einem Kapitalverbrechen mit Gefahr im Verzug: Er vernimmt die Anzeiger vorerst gar nicht, sondern ruft sofort den Angezeigten an. Er müsse auf der Stelle in die Polizeiinspektion kommen. Dies tut der Polizist, obwohl er später angeben wird, dass an diesem Tag in der Polizeiinspektion sehr viel zu tun gewesen ist und er überlastet war.

Mit Verletzungen aus der Polizeiinspektion

Der angezeigte Mann, nennen wir ihn F.L., begibt sich, obwohl er nicht müsste, sogleich in die Polizeiinspektion. Rund eine Dreiviertelstunde danach verlässt er diese wieder: mit einem riesigen blauen Auge, einer heftigen Gesichtsschwellung, einer Rissquetschwunde an der Lippe, einer Zerrung der Nackenmuskulatur und einer Blutung aus dem Mund. Er ruft sofort seine Lebensgefährtin sowie einen Freund an und berichtet ihnen, was passiert ist. Dann sucht er mit der Lebensgefährtin sogleich eine andere Polizeistation auf. Dort gibt er an, dass er soeben im Zuge einer Einvernahme von einem Polizisten geschlagen und verletzt wurde.

Polizei
Die Polizeibeamten, an die sich der verletzte Mann wendet, rufen die andere Polizeiinspektion an, und der Anzeiger wird auf Anordnung jenes Polizisten festgenommen, den er soeben angezeigt hat.
IMAGO/Panthermedia/Spitzi-Foto

Die Beamten dieser anderen Polizeiinspektion rufen darauf hin den angezeigten Polizisten an. Und nehmen F.L. fest; auf Anordnung ebendieses Polizisten. Begründung: Er mache soeben die Zeugeneinvernahme mit dem Ehemann jener Frau, die beleidigende Kommentare erhalten hatte, und dieser habe per Whatsapp von F.L. eine gefährliche Drohung erhalten (Festnahmegrund: Betretung auf frischer Tat).

Arrest in der Tatort-Polizeiinspektion

Doch das mutmaßliche Folteropfer wird nicht nur auf Anordnung des der Folter beschuldigten Polizisten festgenommen: Es wird auch noch sogleich auf ausgerechnet jene Polizeiinspektion verbracht und dort in den Arrest gegeben, wo es nach seiner Anzeige soeben gefoltert worden ist. Eine schwere Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention.

Auf der Tatort-Polizeiinspektion (gegen 20.30/21.00 Uhr) angekommen, wird F.L. weder einvernommen noch der Journalstaatsanwalt kontaktiert. Obwohl die Rettung (zur Behandlung im Spital) erst rund zwei Stunden nach dem Eintreffen auf der Tatort-Polizeiinspektion gerufen wurde, also ausreichend Zeit vorhanden gewesen wäre.

Das Gesetz schreibt vor, dass die Polizei einen festgenommenen Beschuldigten unverzüglich zu vernehmen und ihn freizulassen hat, sobald sich ergibt, dass kein Grund zur weiteren Anhaltung vorhanden ist (§ 172 StPO). F.L. wurde über Nacht im Arrest belassen, erst 13 Stunden nach seiner Festnahme einvernommen. 14,5 Stunden nach seiner Festnahme kontaktierte die Polizei den Journalstaatsanwalt, der die sofortige Freilassung verfügte. Erst 15 Stunden nach seiner Festnahme wurde das mutmaßliche Folteropfer aus der Polizeihaft entlassen. Das Ermittlungsverfahren gegen F.L. (wegen der Belästigung und der gefährlichen Drohung) wurde, nach Untersuchung dessen Mobiltelefons, eingestellt.

Die Tischplatte

Der der Folter angezeigte Polizist bestritt, F.L. geschlagen zu haben. Dieser sei vielmehr während der Vernehmung laut geworden, habe geschrien, dass er unschuldig sei, und mit den Händen gestikuliert. Dann habe er, mit geballten Fäusten, versucht, vom Sessel aufzustehen (eine Notwehrsituation behauptet der Polizist nicht), weshalb der Polizist aufgestanden, auf F.L. zugegangen sei und ihn mit beiden Handflächen an den Schultern nach unten gedrückt habe, um ihn am Aufstehen zu hindern. Durch eine Ausweichbewegung sei F.L. darauf hin mit dem Kopf stark gegen die Tischplatte geprallt.

Aufgrund des Lärms kamen einige Kollegen des Polizisten in das Vernehmungszimmer. Diese hat er wieder weggeschickt, mit dem Hinweis, es sei alles wieder in Ordnung. Eine soeben erfolgte Selbstverletzung des Befragten erwähnte er nicht. F.L. habe einen Rettungsdienst abgelehnt. Trotz der Verletzungen habe er die Vernehmung fortgesetzt. Die zeitweise Anwesenheit des Ehemanns (des ursprünglich anzeigenden Ehepaares) während der Einvernahme von F.L. bestritt der Polizist, obwohl der Ehemann diese zeitweise Anwesenheit selbst bestätigte.

Die zeitliche Abfolge der Ereignisse schilderte der Polizist zum Teil nachweislich unrichtig. Und er erwähnt keine Telefonate mit Dritten während der Einvernahme, obwohl diese Telefonate von F.L.s Handy durch Einzelgesprächsnachweise nachgewiesen wurden. F.L. beantragte die Einvernahme der Gesprächspartner zum Beweis dafür, dass der Polizist über F.L.s Handy mit ihnen gesprochen und sie, die F.L. als Entlastungszeugen genannt hatte, ebenfalls aufgefordert hat, sofort zur Polizeiinspektion zu kommen. Diese Zeugen wurden nie befragt.

Die Tür

Den nach der Festnahme spätabends gerufenen Rettungssanitätern berichtete (laut Einsatzprotokoll der MA 70) die Polizeistation eine andere Version als der Polizist: F.L. habe sich im Zuge der Verhaftung vor Ort sehr unkooperativ und aggressiv verhalten und sei dabei mit seinem Gesicht gegen die Tür geprallt.

Der von der Staatsanwaltschaft bestellte gerichtsmedizinische Sachverständige führte aus, dass bei mehreren kräftigen Faustschlägen gegen das Gesicht Prellmarken in Form zunächst umschriebener Rötungen und Unterblutungen zu erwarten seien, die nicht aufgetreten seien. Die Staatsanwaltschaft stellte daraufhin das Verfahren ein. Hinsichtlich des 15-stündigen Arrests erblickte sie keinen Anfangsverdacht eines Amtsmissbrauchs.

F.L. beantragte die Fortführung und wies unter anderem darauf hin, dass der Sachverständige nichts darüber gesagt hat, ob die von ihm angeführten Prellmarken stets und immer auftreten müssen oder ob es auch möglich ist, dass die angezeigten Übergriffe ausnahmsweise keine solchen Prellmarken verursachen, zumal F.L. angegeben hat, dass der Polizist bei den Schlägen Handschuhe getragen hat. Dass Prellmarken zu "erwarten" seien, sage nicht, dass die geschilderten Übergriffe ohne solche Prellmarken unmöglich seien. Die Staatsanwaltschaft hätte diese Frage klären müssen. Überdies sind auf den Fotos der Verletzungen Blutunterlaufungen der Wangen- und Jochbeinregion, des linken Augenober- und Augenunterlides und des linken Auges mit Blutung unter der Bindehaut zu erkennen, wie der Sachverständige selbst festgehalten hat.

In den Sessel drücken zulässig

F.L. machte außerdem geltend, dass auch nach der eigenen Version des Polizisten dieser einen Amtsmissbrauch oder zumindest eine fahrlässige Körperverletzung begangen hätte. F.L. war zum Zeitpunkt seiner Vernehmung nicht festgenommen und daher frei, jederzeit (auch verärgert und wütend) aufzustehen und zu gehen. Es stand dem Polizisten in keiner Weise zu, ihn daran zu hindern, von seinem Sessel aufzustehen und ihn in den Sitz zu drücken, noch dazu mit derart starker Gewalt, dass F.L. (laut Verantwortung des Polizisten) als Folge seines Ausweichens mit seinem Kopf so heftig auf den Tisch prallt, dass er derart schwere Verletzungen davonträgt. Eine Notwehrsituation hat der Polizist nicht behauptet.

Das Landesgericht für Strafsachen Wien hat die Einstellung bestätigt. Die Zeugen zu den Telefonaten während der Einvernahme seien nicht relevant und eine Ergänzung des Sachverständigengutachtens nicht erforderlich. Das In-den-Sessel-Drücken des nicht festgenommenen Befragten stelle keinen Befugnismissbrauch dar.

Geringfügige Falschbeurkundung

Der Polizist hat vom Einvernahmeprotokoll mit F.L. drei verschiedene Versionen mit unterschiedlichen (falschen) Zeitangaben erstellt. Er verantwortete sich damit, er habe nicht gewusst, dass er die richtigen Zeiten protokollieren müsse. Und die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren ein. Er sei mit der Amtshandlung überfordert gewesen und habe keine bösen Absichten gehegt.

Diesbezüglich gab das Gericht dem Fortführungsantrag von F.L. Folge. Es liege klar eine falsche Beurkundung im Amt vor. Die Verantwortung des Polizisten sei völlig lebensfremd. Die Staatsanwaltschaft müsse aber prüfen, ob eine Einstellung wegen Geringfügigkeit (eine sehr selten angewandte Möglichkeit der Strafprozessordnung, § 191 StPO) erfolgen könne. Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren gegen den Polizisten umgehend wegen Geringfügigkeit ein. Und klagte F.L. wegen Verleumdung an. F.L. steht daher kommende Woche vor dem Strafrichter. (Helmut Graupner, 11.7.2023)