Eine Raffinerie mit vielen Schloten und einer brennenden Gasflamme im Abendlicht.
Eine Erdölraffinerie in Schottland. Der Einfluss des Menschen auf den Planeten ist inzwischen in vielen Bereichen unumkehrbar. Der Beginn dieser Entwicklung liegt in der Mitte des 20. Jahrhundert, als viele menschliche Aktivitäten eine starke Beschleunigung erfuhren.
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Fast wäre die Wahl auf Wien gefallen. Michael Wagreich vom Institut für Geologie der Universität Wien hat Spuren menschlicher Aktivität unter dem Karlsplatz detailliert dokumentiert – gut genug, um ihn als möglichen Referenzpunkt zu verwenden, mit dem ein neues Erdzeitalter begründet werden sollte. Doch nun machte ausgerechnet ein idyllischer See das Rennen. Über diesen Vorschlag muss nun noch abgestimmt werden.

Den Begriff des "Anthropozäns" prägte im Jahr 2000 der Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen, als es um die Frage ging, in welchem geologischen Erdzeitalter wir leben. Bisher hatten Lehrbücher das seit 12.000 Jahren andauernde Holozän genannt. Crutzen machte darauf aufmerksam, dass der Mensch seit dem Beginn der industriellen Revolution einen nicht mehr zu vernachlässigenden Einfluss auf die Geologie des Planeten habe. Er brachte die Einführung eines neuen Erdzeitalters auf, des Anthropozäns, nach dem griechischen Wort für Mensch.

Doch Fachleute aus der Geologie waren nicht sehr erfreut. Im STANDARD-Interview sagte der Paläobiologe Jan Zalasiewicz vor drei Jahren: "Es stimmt, das Anthropozän wird nicht von allen befürwortet. Ein Grund dafür liegt darin, dass die geologische Zeitskala eine sehr konservative Struktur ist und auch sein muss."

Doch die Argumente des menschlichen Einflusses ließen sich nicht von der Hand weisen, und so beauftragte die Unterkommission für Quartär-Stratigrafie der internationalen Kommission für Stratigrafie (die Wissenschaft von der Datierung von Gesteinsschichten) eine Kommission, um Standards festzulegen, nach denen das Anthropozän wissenschaftlich erfasst werden könnte. Diese wurde Arbeitsgruppe für Anthropozän, kurz AWG genannt. Zu den Aufgaben dieser interdisziplinären Forschungsgruppe gehörte die Auswahl eines "Golden Spike", eines Orts, an dem der menschliche Einfluss auf die Geologie so deutlich ist, dass er er als Referenzpunkt dienen kann. Heute, am 11.7.2023, stellt das Team sein Ergebnis vor.

Langer Auswahlprozess

"Diese Ankündigung stellt den Höhepunkt eines dreijährigen Projekts dar, bei dem zwölf Standorte als potenzielle Kandidaten für einen Abschnitt und einen Punkt des globalen Referenzstratotyps oder Golden Spike bewertet wurden", sagt der Geologe Colin Waters von der Universität Leicester, der Teil der AWG ist. "Jeder nominierte Golden-Spike-Abschnitt müsste vollständig analysiert werden, um die Eignung des Abschnitts und seiner anthropogenen Marker zu bewerten. Wir mussten mehr als einen Standort analysieren lassen, um zu zeigen, dass die mit dem Anthropozän assoziierten Signale in Abschnitten auf dem gesamten Planeten und in verschiedenen Umgebungen vorhanden sind."

2019 habe man Forschungsgruppen in aller Welt ermutigt, Vorschläge zu machen, welcher Ort sich als Golden Spike eignen könnte. Ab 2020 habe man diese Vorschläge dann geprüft. Man untersuchte sie auf spezifische, vom Menschen verursachte Marker wie künstliche Radionuklide, Verbrennungspartikel, Neobiota oder organische Schadstoffe. Bei den ersten zwölf Vorschlägen war der Karlsplatz noch mit im Rennen, doch er fiel schließlich weg, und neun Orte kamen in die engere Wahl.

"In einer zweiten Abstimmungsrunde, die am 20. Februar 2023 endete, wurden die drei besten Standorte aus der vorherigen Runde berücksichtigt: der Crawford-See, Sihailongwan in China und die Beppu-Bucht in Japan", berichtet Waters. Aus einer Stichwahl der AWG sei dann der Crawford-See hervorgegangen.

Francine McCarthy von der kanadischen Brook-Universität erklärt die Bedeutung des Sees, der in Ontario im Südosten Kanadas liegt. "Der Crawford-See ist deshalb so besonders, weil er es uns ermöglicht, die Veränderungen der Erdgeschichte in zwei verschiedenen Perioden menschlichen Einflusses in Jahresauflösung zu sehen. Zum einen zwischen dem späten 13. und 15. Jahrhundert durch die Irokesen und viel später, ab dem frühen 19. Jahrhundert, durch europäische Siedler." McCarthy erklärt, dass der See mit 24 Metern verhältnismäßig tief sei. "Der Boden des Sees ist völlig isoliert vom Rest des Planeten, mit Ausnahme dessen, was sanft zu Boden sinkt und sich als Sediment ansammelt." Zudem würden jeden Sommer durch die Wärme der Sonne Calzitkristalle entstehen, die wie Schnee auf den Grund regneten. Diese Schichten seien wie Jahresringe und erlaubten eine genaue Datierung.

Ein idyllischer See mit glatter Oberfläche, von Wald umrandet.
Der Crawford-See im kanadischen Ontario soll zum neuen Standard für das Anthropozän werden.
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Plutonium als Marker

Den Beginn des Anthropozäns soll radioaktives Plutonium aus den 1950er-Jahren markieren. Das widerspricht der ursprünglichen Idee, die industrielle Revolution als Beginn zu wählen. Tatsächlich stellte sich in den letzten Jahren heraus, dass der Einfluss erst in den 1950er-Jahren so stark und eindeutig wurde, dass er die Einführung eines neuen Erdzeitalters berechtigt. Es ist der Beginn eines Phänomens, das "Great Acceleration" genannt wird, bei dem sich die menschliche Aktivität auf der Erde in verschiedensten Bereichen extrem beschleunigt hat. Man finde zuvor einfach keine Spuren der industriellen Revolution in den Sedimenten, betont Walters. "2014 sind wir zu dem Schluss gekommen, dass der Punkt, an dem auf dem gesamten Planeten eine synchrone Veränderung zu beobachten ist, in der Mitte des 20. Jahrhundert liegt", erzählt der Forscher.

"Es ist also die Great Acceleration, die wir als wichtigen Wendepunkt in der Erdgeschichte aussuchten. Aber es ist der Anstieg des Plutoniums und des gesamten radioaktiven Niederschlags, aber speziell von Plutonium 239, den wir als Marker gewählt haben", berichtet McCarthy.

Dieses Plutonium stammt aus den exzessiven Atomtests während des Kalten Kriegs. Der Zeitpunkt stimme gut mit dem Beginn der Great Acceleration überein, betont Waters: "Die zunehmende Verbrennung fossiler Brennstoffe, die Veränderung der landwirtschaftlichen Praktiken, die zunehmende Industrialisierung, die zunehmende Globalisierung und der Transfer von Arten über den gesamten Planeten: All diese Dinge sind mit dem Konzept der Great Acceleration verbunden."

Über den Vorschlag wird jetzt abgestimmt

Der Crawford-See ist bislang allerdings nur ein Vorschlag. Das gesamte Konzept rund um das Anthropozän muss nun in mehreren Abstimmungen bestätigt werden. Zuerst wird die Unterkommission für Quartär-Stratigrafie abstimmen. Wenn mindestens 60 Prozent ihrer Mitglieder für das neue Erdzeitalter stimmen, geht der Vorschlag eine Ebene höher an die Kommission für Stratigrafie. Erneut müssen 60 Prozent ihre Zustimmung geben, um die höchste Instanz zu betrauen: die Internationale Gesellschaft für Geowissenschaften. Erst wenn auch hier mindestens 60 Prozent zustimmen, ist das Anthropozän akzeptiert und wird als neues Erdzeitalter ausgerufen. Damit wird dann offiziell sein, dass die industrialisierte Menschheit eine Epoche von fast 12.000 Jahren weitgehend stabiler Bedingungen beendet hat, die der Menschheit ermöglichten, sich zu der komplexen Gesellschaft hinzuentwickeln, die wir heute erleben.

Die Unumkehrbarkeit dieser Entwicklungen betont auch AWG-Mitglied Jürgen Renn, Direktor der Max-Planck-Institute für Wissenschaftsgeschichte und Geoanthropologie: "Diese Veränderungen, die wir bereits herbeigeführt haben, werden sich erst in den nächsten Jahrzehnten und Jahrhunderten entfalten. Und es gibt bis auf weiteres keine Möglichkeit, dass wir das aufhalten können." (Reinhard Kleindl, 11.7.2023)