Serlachius Museum
Das am See gelegene Serlachius-Museum Gösta in Mänttä bietet Kunst und Natur als Gesamtpaket– samt Art-Sauna.
© Serlachius Museums and Olli Huttunen

Im Raum befinden sich 29 Blumenvasen, zehn Wasserkrüge, neun Lichterketten, sechs Kerzen und eine Wanduhr. Wenn während eines dreigängigen Dinners komplette Stille herrscht und kein Wort gesprochen werden darf, fallen solche Details erst auf. 20 Personen sitzen an einer weiß gedeckten Tafel. Sie trinken, essen und sagen nichts. Geschlagene 90 Minuten lang.

Seit zehn Jahren lädt die aus Finnland stammende und in Berlin lebende Künstlerin Nina Backman zu ihren Silence Meals ein. Performances, die sie bereits in Bologna, Brüssel oder Helsinki abhielt und bei denen es darum geht, in einer zu schnellen Welt innezuhalten, den Moment bewusst zu erleben – und auf meist unnötigen Smalltalk zu verzichten.

Silenece Meal von Nina Backman
Die finnische Performancekünstlerin Nina Backman organisierte ihre "Silence Meals" bereits in Bologna, Berlin, Brüssel und zuletzt in Helsinki.
© Nina Backman, photo: Johan Jacobs

In der Stille schweifen die Gedanken ab – und andere Sinne übernehmen. Die servierten Speisen und Getränke schmecken intensiver, man isst und trinkt bewusster. Geräusche wie in Gläser gegossenes Wasser oder klirrendes Besteck haben sich noch nie so laut angehört. Wann hat man das letzte Mal etwas mit geschlossenen Augen gekostet?

Schweigsames Wurzelnschlagen

Stille zählt Backman zu einem essenziellen Aspekt der finnischen Identität. Das nordische Land mit nur 5,5 Millionen Einwohnern und der größten Waldfläche Europas sowie etwa 180.000 Seen, das Jahrhunderte von Schweden und im 19. Jahrhundert von Russland besetzt war, sah sich – zumindest bis zum Angriffskrieg gegen die Ukraine 2022 – als Brücke zwischen Ost und West. Der Bezug zur Natur, zur Weite und Ruhe der Landschaft des Landes spielte bei der historischen Identitätsfindung Finnlands eine bedeutende Rolle. Ein Land, das erst 1917 Unabhängigkeit erlangte und lange auf der Suche nach der eigenen Sprache war. "Mystik und Naturverbundenheit waren dabei ausschlaggebend", erklärt die Künstlerin.

Dies ist auch in der bildenden Kunst ablesbar, wie schon die Landschaftsmalerei des Golden Age um 1900 zeigt, in dem das finnische Nationalbewusstsein erwachte und große Namen wie Albert Edelfelt, Helene Schjerbeck oder Akseli Gallen-Kallela weite Landschaften, Seeblicke sowie Birkenwälder festhielten. Immer wieder finden sich auch Referenzen zum finnischen Sagenepos Kalevala, das mythische Narrative samt Schamanen, Helden und Gottheiten schuf.

Landschaft von Künstler Albert Edelfelt
Albert Edelfelt gilt als einer der wichtigsten Vertreter des finnischen Golden Age um 1900. Aktuell ist ihm eine umfassende Einzelausstellung im Ateneum Art Museum in Helsinki gewidmet.
Finnish National Gallery / Hannu Pakarinen

Wie stark diese Verbindung von Kultur und Natur in Finnland heute noch ist, verdeutlichen zeitgenössische Kunstaktionen wie das Silence Project von Backman sowie die Million Trees to Finland Initiative exemplarisch. Bei Letzterer legt die Künstlerin kleine Wälder, sogenannte Mini Forrests an, um Biodiversität ins Brachland zu bringen und neue Orte der Begegnung zu kreieren.

Über die letzten Jahre verwirklichte sie bereits vier solcher Plätze und pflanzte dort über 50.000 Bäume, aber auch Erdbeersträucher und Wiesenblumen. Diese Ökosysteme gelten als nachhaltige Kunstwerke und natürliche Kohlendioxidspeicher, die Backman künftig in weitere europäische Städte bringen will.

Von Golden Age bis Art-Sauna

Zwar treffen solche Umweltprojekte, die auf Probleme unserer Zeit aufmerksam machen, einen aktuellen Nerv und können sicherlich auch als Zeitgeist-Erscheinung verstanden werden. Dennoch scheint die Awareness für das Thema Nachhaltigkeit in Finnland einen besonderen Stellenwert einzunehmen. Auch nach Meinung von Wissenschaftern und Klimaexpertinnen sollen Kunst und Kultur verstärkt als Türöffner für nachhaltiges Bewusstsein dienen.

Werk von Emma Ainala
Das jährliche Mänttä Art Festival präsentiert lokale Künstler und Künstlerinnen in einer ehemaligen Tierfutterfabrik. Werke wie "Creaturing Boudoir" (2023) von Emma Ainala lassen Naturbezüge ins Mystische abdriften.
Johannes Ekholm

Womöglich wird der Bezug zur Natur durch das in Finnland gültige "everyone’s right" bestärkt. Dieses besagt, dass die Natur der Allgemeinheit gehört und genutzt werden darf. Zwar können Grundstücke und Land besessen werden, aber alle Menschen haben gleichwertigen Zutritt dazu, solange sie die Natur dort respektieren. Eingezäunte Seezugänge gibt es keine. Steile Hierarchien sind ein No-Go.

Einer der Mini Forrests befindet sich rund 250 Kilometer nordwestlich von Helsinki in einer kleinen Stadt, wo Kunst und Natur zu einem Gesamtpaket geschnürt werden. Mänttä-Vilppula lockt mit einer Kombi aus Museen, Naturaktivitäten, lokaler Gastronomie und seit 2022 auch mit einer finnischen "Art-Sauna" Interessierte an. In der etwa 10.000-Einwohner-Gemeinde, die stark von Abwanderung betroffen ist, bildet sich zunehmend ein kleines Kunstzentrum heraus.

Installation Helsinki Biennale 
Helsinki Biennale auf der Insel Vallisaari: Das Kollektiv Remedies (Sasha Huber & Petri Saarikko) lässt Nebelschwaden über einen See streifen. Am Grund des verseuchten Gewässers liegt immer noch explosive Kriegsmunition.
© HAM/Helsinki Biennial/Kirsi Halkola

Mehr und mehr Künstler und Künstlerinnen ziehen hierher, um abseits der Städte und in der Stille der Natur zu arbeiten. Und auch immer mehr Touristen kommen in diese beschauliche "Art-Town": Anziehungspunkte sind das historische Serlachius-Museum Gustaf, das am See gelegene Serlachius-Museum Gösta – das klassische Moderne, von finnischen Klassikern bis zu spannender Gegenwartskunst, ausstellt – sowie das jährliche, in einer ehemaligen Tierfutterfabrik untergebrachte Mänttä Art Festival, das sich auf Lokales konzentriert.

Verzaubernd, explosiv und subtil

Tatsächlich scheint die Umwelt konzeptionell und inhaltlich omnipräsent in der zeitgenössischen Kunst: Neben zahlreichen Museumsausstellungen zum Thema – egal ob in Mänttä oder der Hauptstadt – bringt insbesondere die Helsinki Biennale (bis 17.9.) Werke internationaler Kunstschaffender in ein atemberaubendes Ambiente. Erst zum zweiten Mal findet die Schau auf der naturbelassenen und weitläufigen Insel Vallisaari statt – einem der etwa 300 vorgelagerten Schären, von denen die meisten jahrhundertelang und bis 1945 als militärische Stützpunkte dienten.

Skulptur Adrián Villar Rojas auf der Helsinki Biennale 
Nach manchen Arbeiten wie den alienhaften Skulpturen von Adrián Villar Rojas muss in Baumkronen erst gesucht werden.
© HAM/Helsinki Biennial/Perttu Saska

Kaum zu glauben, dass in dieser wie verzaubert wirkenden Landschaft mit Wäldern, Felsklippen und dunklen Gewässern noch immer Relikte aus jener Zeit schlummern. So lässt das in Helsinki ansässige Kollektiv Remedies weiße Nebelschwaden über einen kleinen See streifen – die Schönheit an der Wasseroberfläche verschleiert die Tatsache, dass am Grund des verseuchten Gewässers immer noch explosive Kriegsmunition liegt. In einem der ehemaligen Waffenkeller herrscht indes Dunkelheit, und die dröhnende Videoinstallation der litauischen Künstlerin Emilija Škarnulytė führt in die Unterwasserwelt des ebenfalls kontaminierten Baltischen Meeres.

Die diesjährige Biennale verwebt überraschend wenige und subtil verteilte Kunstwerke mit der Natur, sodass nach manchen Arbeiten wie den alienhaften Schwammerl-Skulpturen von Adrián Villar Rojas in Baumkronen erst gesucht werden muss. Das entschleunigte Konzept wirft Fragen danach auf, wie wir von unseren eigenen Sinnen, unserer Umwelt und von der dort herrschenden Stille lernen können. Einfach lauschen. (Katharina Rustler aus Helsinki, 11.7.2023)