"Rodeo" - Asphalt-Piratin in der Pariser Vorstadt.

Tu vas fly!" – "Du wirst fliegen!" – verspricht der Motorrad-Rider Abra der jungen Julia. Sie kommt als Neuling zum illegalen Straßen-Rodeo, er erklärt ihr, wie sie mit ihrem Bike abhebt, und nennt sie Bruder. Rund herum schwitzen die jungen Männer bei halsbrecherischen Stunts ihr Testosteron heraus und tanken Adrenalin. Es geht um alles und um nichts: Wer zeigt den besten Wheelie (nur auf dem Hinterrad fahrend)? Wer reitet am wildesten mit seiner Maschine? Kurz darauf reitet die Kavallerie der Polizei in die Pariser Banlieue, und die Asphaltfreiheit ist vorbei.

Doch Julia, die niemandem ihren wahren Namen verrät, wird plötzlich Teil der Gang. Inconnu, die Unbekannte, weiß, wie man reichen Innenstadt-Parisern ihre Maschinen abnimmt. Ihr Lebensmotto: "Ich brauche kein Geld, ich stehle alles, was ich will."

Asphalt-Piraten nennt Regisseurin Lola Quivoron die Motocrosser treffend. Sie selbst wuchs in einem Pariser Vorort auf und kam für eine Kurzdoku mit der Dirty Riderz Crew, dem Urban Rodeo und Cross-Bitumen in Kontakt. Die intensive Feldforschung merkt man ihrem Langfilmdebüt Rodeo nun an. Nicht alles an der Geschichte funktioniert perfekt. Aber der wilde Ritt ihrer Hauptfigur fasziniert, nicht zuletzt wegen der starken Darstellerin Julie Ledru. Es ist eine Wildheit, die sich auch auf den Breitbildstil des "wie einen Kriegsfilm geschnittenen" Rodeo überträgt.

Rodéo Trailer #1 (2023)

Viel erfahren wir nicht über Julia, nachdem sie aus der Wohnung ihrer Familie in die Garage der Gang zieht. Ihre Hintergrundstory wird nie erzählt, aber immer wieder spürbar in all der Wut, die die junge Frau antreibt. Ein Tattoo am Unterarm, ein Räucherritual, der Hinweis auf das französische Überseedepartement Guadeloupe – mehr verrät uns Quivoron nicht.

"Wir haben an ihrer Intensität gearbeitet, an ihrer Geschwindigkeit – sie ist immer allen einen Schritt voraus – ihrer Brutalität, ihrer Respektlosigkeit. Julia ist ein Chamäleon, das sich ständig verwandelt. Ich bin fasziniert von unsympathischen, getriebenen Figuren, die sich in einer selbstzerstörerischen existenziellen Krise befinden."

Friedliche Freiheit

Julia selbst sagt gleich zu Beginn "Ich brauche niemanden" und sucht doch den Anschluss an die halbstarken Rodeo-Rider. Mit ihnen stiehlt sie Bikes im Auftrag ihres Chefs, der vom Gefängnis aus die Kontrolle hat. Seine Frau und ihren kleinen Sohn nimmt sie einmal auf eine Motorrad-Spritztour mit, und für einen Moment deutet sich eine andere, friedlichere Freiheit für die beiden so unterschiedlichen Frauen an. Doch Julias Freiheit liegt nicht in der Zukunft, sondern auf der Straße. Und die ist hart, jedenfalls in der Pariser Banlieue.

Auch wenn das reale Sozialdrama der gesellschaftlichen Peripherie hier nur am Rande durchscheint: Rodeo korrespondiert mit den Fernsehbildern der Rebellion und Unruhe in den Vorstädten nach dem jüngsten mutmaßlichen Polizeimord. Regisseurin Lola Quivoron engagierte sich 2021 mit Filmworkshops für Jugendliche im Vorort Romainville. Rodeo feierte 2022 in der Cannes-Reihe "Un Certain Regard" Premiere. Und er endet in der letzten Szene mit einem perfekten Schlussbild, das nicht von ungefähr an den Beginn von Mathieu Kassovitz’ prophetischen Banlieue-Film La Haine erinnert. (Marian Wilhelm, 11.7.2023)