Julia Timoschenko, ehemalige Ministerpräsidentin der Ukraine, schreibt in ihrem Gastkommentar über den von ihr gewünschten Nato-Beitritt ihres Landes und versucht, Zweifel daran auszuräumen.

Fast alle Ukrainerinnen und Ukrainer blicken diese Woche sehnsuchtsvoll in Richtung der litauischen Hauptstadt Vilnius, wo auf dem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der Nato die Entscheidung über unseren Platz in Europa und im Westen eingeleitet wird.

Obwohl praktisch alle Ukrainerinnen und Ukrainer von der Nato-Mitgliedschaft träumen, haben uns die uns seit der russischen Invasion in unser Land vor fast 18 Monaten aufgezwungenen brutalen Kämpfe harte Lehren in puncto Realismus erteilt. Wir sind uns daher wohlbewusst, dass es nicht leicht wird, unseren Nato-Traum Realität werden zu lassen. Ich selbst bin mir dessen mit Sicherheit bewusst: 2008 war ich Mitunterzeichnerin des Beitrittsgesuchs der Ukraine an den Generalsekretär der Nato. Doch die Ukraine blieb außerhalb des Bündnisses – mit verheerenden Folgen.

Niemand erwartet, dass der Ukraine eine Nato-Mitgliedschaft angeboten wird, während auf ukrainischem Gebiet Krieg wütet. Schließlich würde dies das Bündnis gemäß Artikel 5 seines Gründungsvertrags zwingen, in den Konflikt einzugreifen. Die Vorstellung eines umfassenden Krieges zwischen der Nato und Russland – einer Nuklearmacht, die bereits ein verbrecherisches Maß an Rücksichtslosigkeit demonstriert hat – behagt niemandem, auch nicht den Ukrainerinnen und Ukrainern.

Ukraine Nato
Wirbt für den Nato-Beitritt ihres Landes: Julia Timoschenko, ehemalige Ministerpräsidentin der Ukraine.
EPA/JOSE SENA GOULAO

Doch wird der aktuelle Krieg nicht ewig dauern. Dafür werden das Geschick und die Tapferkeit unserer Soldaten sorgen – und die Zusagen unserer Verbündeten und Freunde, uns die Werkzeuge zur Verfügung zu stellen, die wir brauchen, um Russland aus unserem Land zu vertreiben. Dies sind nicht nur Nato-Mitglieder, sondern auch dutzende anderer Staaten, bis hin zu Japan. Es geht bei der Nato-Mitgliedschaft für die Ukraine also darum, was nach Kriegsende erforderlich ist. Es geht darum, den Frieden in Europa wiederherzustellen und zu wahren – und ergo darum, den ureigensten Zweck der Nato zu erfüllen.

Doch gibt es innerhalb des Bündnisses Zweifel, ob es klug ist, uns zu Mitgliedern zu machen. Lassen Sie mich versuchen, einige davon auszuräumen.

Einige scheinen sich zu sorgen, dass die Ukraine zu einer Art Trittbrettfahrer werden wird, der der Nato nichts als Kopfschmerzen bereitet. Doch es kann keinen besseren Beweis für das Gegenteil geben als unseren wirksamen Widerstand gegen – und letztlichen Sieg über – Russland auf dem Schlachtfeld. Tatsächlich werden unsere kampferprobten, enorm selbstbewussten Streitkräfte auf Jahrzehnte hinaus ein wichtiger Aktivposten für die transatlantische Sicherheit sein.

"Tatsache ist, dass die Streitkräfte der Ukraine die bei weitem besten Kampftruppen sind, die auf absehbare Zeit in Europa zu finden sein werden."

Auf den Schlachtfeldern der Ukraine wurde eine neue Art der Kriegsführung geboren, und es sind die ukrainischen – und nicht die russischen – Truppen, die neue Taktiken entwickelt haben. Während fast alle Nato-Mitglieder im 21. Jahrhundert wenig Erfahrung mit einer Kriegsführung großen Maßstabs haben, ist den Streitkräften der Ukraine – vom neuen Rekruten bis hin zum Generalstab – bewusst, dass in den kommenden Jahrzehnten Technologie und individuelle Entscheidungsfindung, bis hinunter auf Zug-Ebene, der Schlüssel für den militärischen Erfolg sein werden. Unsere Streitkräfte sind jene Armee neuen Musters, der die Europäer in Sachen Ausbildung, Taktik und der jedem Soldaten übertragenen Verantwortung werden nacheifern wollen.

Tatsache ist, dass die Streitkräfte der Ukraine die bei weitem besten Kampftruppen sind, die auf absehbare Zeit in Europa zu finden sein werden. Und die Nato kann sich sicher sein, dass sie immer in höchster Bereitschaft gehalten werden. Wir haben einen hohen Preis dafür bezahlt, dass wir 2014, als Russland erstmals in unser Land einfiel und die Krim okkupierte, unvorbereitet waren. Das wird nicht wieder passieren. Wir werden ein Verbündeter sein, der vom ersten Tag unseres Beitritts an bereit und fähig ist, jeden Zoll Nato-Gebiet zu verteidigen.

Nukleares Säbelrasseln

Ich bin mir sicher, dass die Ukraine dieses feierliche Bekenntnis zur Verteidigung unserer Verbündeten einhalten wird. Die Nato-Mitglieder sollten sich daran erinnern, dass wir bei Kriegsbeginn auf die gleiche Weise "allein" waren, auf die Winston Churchill Großbritannien im Frühjahr 1940 als allein ansah. Unsere Geschlossenheit, Zähigkeit und Standhaftigkeit in jenen dunklen Stunden, Tagen und Wochen sollte allen Nato-Mitgliedern Respekt abnötigen. Unsere Nation ist eine, die für die Freiheit kämpfen wird, egal wie die Chancen stehen.

Was die nukleare Bedrohung angeht, so ist es eben der Status der Ukraine als Nicht-Nato-Mitglied, der das nukleare Säbelrasseln des Kreml ermöglicht hat. Es waren vor Russlands großangelegter Invasion in der Ukraine 2022 in Europa jahrzehntelang keinerlei nukleare Drohungen zu vernehmen. Doch weil die Ukraine kein Nato-Mitglied ist, hat die russische Führung wiederholt gedroht, im laufenden Konflikt taktische Atomwaffen einzusetzen.

Dies ist ein weiterer Grund, warum die Ukraine für die Nato ein Aktivposten sein wird: Russland wird auch nach Kriegsende noch immer ein Nachbarland sein. Ich besitze keine Kristallkugel; ich kann nicht im Ansatz erraten, wer Russland zu diesem Zeitpunkt regieren wird. Doch ich weiß, dass die russischen Normalbürgerinnen und Normalbürger – die Jahrzehnte des Despotismus durchlitten haben und nun 100.000 oder mehr ihrer Söhne in einem gescheiterten Angriffskrieg verloren haben – nach einem Beispiel für eine Gesellschaft suchen werden, wie sie selbst sie sich wünschen.

Dieses Musterbeispiel kann und muss eine prosperierende, vollständig in die Nato und die Europäische Union integrierte ukrainische Demokratie sein. Wir haben einen zu hohen Preis gezahlt, um uns mit weniger zufriedenzugeben. (Julia Timoschenko, Übersetzung: Jan Doolan, Copyright: Project Syndicate, 11.7.2023)