Lautpoesie Jandl Biografie
Das "Öffnen und Schließen des Mundes" wie des dazugehörigen Buches: Ernst Jandl (hier in Berlin 1992) veränderte von Grund auf das Verständnis dessen, wie ein Gedicht auszusehen habe.
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Zu Treffen mit ihm Nahestehenden ging der Wiener Dichter und Mittelschulprofessor öfter mit Merkzetteln bewaffnet. Seinen Freunden war Ernst Jandl ein ebenso fürsorglicher wie unabsehbar strenger – und zuweilen cholerischer – Verbündeter. Aus der Halbdistanz betrachtet, war der vielleicht wichtigste heimische Lyriker des ausgehenden 20. Jahrhunderts ein Januskopf.

Jandl wahrte, adrett mit Sakko und Clubkrawatte bekleidet, zu jeder Gelegenheit den bürgerlichen Habitus. Zugleich eignete ihm ein aufbrausender Zug. Zupass kam ihm ein triumphal schnarrendes Organ. Mit ihm brannte er Gedichtklassiker wie schtzngrmm selbst größten Auditorien – später unter Zuhilfenahme vital pulsierender Jazzmusik – unauslöschlich ins Gedächtnis.

Jandl war vielerlei auf einmal. In allen Lebensrollen kommt er vor in Hans Haiders erster großer, sehr verdienstvoller Lebensnacherzählung: Ernst Jandl 1925–2000. Der Untertitel suggeriert, dass der Autor Maß genommen habe an Jandls Manier: Das Buch sei "eine konkrete Biografie".

Apropos konkrete Poesie: Jandl hatte seit Ende der 1950er mit Lautgedichten und Buchstabenkonstellationen die Ansicht, wie ein lyrischer Text auszuschauen habe, von Grund auf verändert. "rot / ich weiß / rot" lautet, in strikt vertikaler Anordnung, das vor Maulfaulheit überfließende Gedicht Eine Fahne für Österreich. Von famosen, tolldreisten Anschlägen wie diesem sollte sich die deutsche Sprache, sehr zu ihrem Glück, nie mehr erholen.

Allerlei Kränkungen

Dabei agierte der Bankbeamtensohn in Rufnähe zur Wiener Nachkriegs-Avantgarde. Früh schloss er sich mit der sanftmütigen, so ganz anders gearteten Kollegin Friederike Mayröcker (1924–2021) zu einer Liebesgemeinschaft zusammen. Diese widerstand den Anfeindungen durch eine erzkonservative Nachkriegsgesellschaft, aber auch der Vernachlässigung durch Presse, Funk und Fernsehen glorios.

Schlimmer wiegen dabei Kränkungen, die Jandl durch Avantgarde-Geschwister im Geiste erfuhr. Sieht man vom treuen Kollegenfreund Andreas Okopenko ab, begegneten ihm Vertreter der ihm wesensverwandten Wiener Gruppe, voran Oswald Wiener und Gerhard Rühm, mit gelegentlicher Herablassung.

Dabei durchpflügte Jandl, ein Einzelgänger mit leutseligen Anlagen, den Literaturbetrieb wie ein Hecht den Karpfenteich. An ihm war, wie Haider detailreich darlegt, ein Netzwerker von Format verloren gegangen. Erste Triumphe feierte der immer wieder um Schulfreistellung bettelnde Pädagoge in London, 1965, an der Seite von Allen Ginsberg und anderen internationalen Poeten: "him hanfang war das wort hund das wort war bei / gott hund gott war das wort hund …" Manche Zuhörer mochte es in der Royal Albert Hall angesichts der lautlichen Bloßstellung totalitären Ungeists kalt überlaufen haben.

Jandl war ein ingeniöser Vortragender; ein gestrenger Lehrer; ein Samson, der im Alleingang an den Säulen der Verständigung rüttelte. Sein Unbehagen an der gebrechlichen Welt übersetzte er in Verlautbarungen von ausnehmender Obszönität. Seine wüstesten Selbstbezichtigungen verfasste er, etwas später im Leben, in einer "heruntergekommenen Sprache". Jandl verwendete dabei ein nur auf den ersten Blick drolliges Idiom. Litaneien voller Prädikate in Infinitivform, die durch die Hintertür vermeintlicher Unbeholfenheit die Abnahme der eigenen Vitalität schauerlich illustrieren.

Vergälltes Alter

Es hat bis heute keinen Dichter von vergleichbarer Schonungslosigkeit gegen sich selbst gegeben. Haider, einst Presse-Feuilletonchef und dem älteren Autor ein treusorgender Freund, erspart den Lesern kein einziges Weh. Jedes dieser muss Jandl mit zunehmender Intensität das in Wahrheit gar nicht so hohe Alter gründlich vergällt haben.

Was Haiders Buch bei aller Formulierungsfreude abgeht, ist eine These – oder, noch richtiger, die Modellierung des zusammengehäuften Materials. Jandl trug noch in seiner Eigenschaft als öffentliche Person eine Unzahl von Wundmalen davon. Er bezahlte sein Engagement, etwa für die Grazer Autorinnen- und Autorenversammlungen, mit Erschöpfung. Auch geschultes Sitzfleisch ist vorm Mürbewerden nicht gefeit.

Als Funktionär, der für Autorinnen- und Autorenrechte stritt, besaß Jandl Willensstärke, zudem verfügte er über bürokratisches Geschick. Als Zerrissener musste er zwischen sich als Beamter und seinem Selbst als Anarchist vermitteln.

Als in die Wolle gefärbter Sozialdemokrat blieb er dem Problem des Glaubens gegenüber bis zuletzt aufgeschlossen. Eben weil Jandl den "österreichischen Widerspruch" verkörperte, besaß er jedes Recht, mit dem, was er erreicht hatte, unzufrieden zu sein. Aus Anlass seiner Grablegung 2000 hielt Jandl übrigens einen Rosenkranz in Händen. (Ronald Pohl, 12.7.2023)