Wenige Gesetze polarisieren so stark wie das Renaturierungsgesetz, dem das EU-Parlament am Mittwoch nach einer hitzigen Diskussion zustimmte. "Die Kommission hat nicht gut vermittelt", kritisiert EVP-Vorsitzender Manfred Weber nach der Abstimmung. "Wir haben gekämpft und hätten fast gewonnen", so der deutsche Abgeordnete. Der Ausgang war denkbar knapp: Mit 336 gegen 300 Stimmen wurde das Vorhaben angenommen. Damit können nun die Verhandlungen zwischen Parlament und Mitgliedsstaaten beginnen.

Webers Partei lehnte das grüne Vorhaben der Kommission in den vergangenen Monaten lautstark ab – obwohl die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen selbst aus der EVP-Familie, sogar derselben Partei wie Weber kommt. Die Fronten in den vergangenen Monaten wurden zunehmend härter. Zuletzt tadelte die Kommission auf Twitter die größte Fraktion im Europaparlament sogar wegen der Verbreitung von Falschinformation. Eine davon: Das Gesetz gefährde die Ernährungssicherheit. Ganz im Gegenteil könne das Gesetz zur langfristigen Verbesserung von Bodenqualität, Bestäubung und Wasserspeichern beitragen, argumentierte die Kommission. Die Wogen gingen hoch, selten fanden sich vor dem EU-Parlament in Straßburg so viele Demonstrantinnen und Demonstranten beider Seiten mit Traktoren und Pappschildern ein.

Natur; Naturschutz; EU-Gesetze; Renaturierung
Das Renaturierungsgesetz sieht vor, dass zerstörte Flächen in der EU wiederhergestellt werden.
APA/dpa/Matthias Bein

 Mindestens 20 Prozent bis 2030

Ziel des Gesetzes ist, dass sich Ökosysteme in Europa wieder erholen können. Heute seien über 80 Prozent der geschützten Lebensräume in schlechtem Zustand, sagt die Europäische Umweltagentur (EEA). Daher schlug die EU-Kommission vor rund einem Jahr einen neuen Kurs vor. Der Gesetzesentwurf, der seit Monaten heiß diskutiert wird, soll nun die Mitgliedsstaaten dazu verpflichten, trockengelegte Moore wiederzuvernässen, Meeresökosysteme instand zu setzen und Flüsse und Wälder naturnäher zu gestalten. Städte sollen grüner werden.

Um das zu erreichen, will der Entwurf verbindliche Ziele stecken. Konkret sollen ab 2030 mindestens 20 Prozent der Land- und Meeresflächen effektiv geschützt werden. Das Sterben der Bestäuberinsekten soll aufgehalten werden. Bis 2050 sollen dann alle Ökosysteme wieder "in gutem Zustand" sein.

Die Ausgestaltung des Gesetzes ist jedoch umstritten, seitens der EVP war in den vergangenen Monaten immer öfter zu hören: Man sei für den Naturschutz, aber das Gesetz sei einfach schlecht.

EVP-Vorsitzender Manfred Weber (CSU) stellte sich gegen den Vorschlag der Kommission.
AP/Jean-Francois Badias

In den Stunden vor der Abstimmung gaben dann aber doch immer mehr EVP-Abgeordnete bekannt, sie würden für das Abkommen stimmen. Die finnische EVP-Abgeordnete Sirpa Pietikäinen schrieb: "Lasst uns unsere Verantwortung ernst nehmen und über die Tagespolitik hinwegkommen." Und der tschechische Abgeordnete Stanislav Polčák ließ wissen, er werde für das Gesetz stimmen und wolle es nun zusammen mit Rat und Kommission verbessern. Othmar Karas (ÖVP), Vizepräsident des Europäischen Parlaments, erklärte vor der Abstimmung noch, er habe mit dem aktuellen Entwurf "keine Freude". Vieles sei unklar, aufseiten der Bevölkerung gebe es viele Fragen, Sorgen und Ängste.

Gefeiert wurde hingegen bei den Sozialdemokraten und den Grünen. Das Gesetz sei ein großer Gewinn für alle, auch für Landwirtschaft und Unternehmen, freute sich der sozialdemokratische Abgeordnete César Luena.

Das EU-Parlament in Straßburg entschied mit 336 gegen 300 Stimmen für das neue Gesetz.
AFP/FREDERICK FLORIN

Wissenschaft steht hinter dem Vorhaben

Eine Antwort auf diese offenen Fragen sieht die EVP in einer Notbremse: Wenn Nahrungsmittelpreise, Genehmigungen für soziale Bauprojekte oder der Erneuerbaren-Ausbau durch das Gesetz negativ beeinflusst werden, sollen die Vorschriften ausgesetzt werden.

Ähnliche Punkte versuchen Wissenschafterinnen und Wissenschafter zu entkräften. Über 6000 Forschende unterzeichneten einen offenen Brief, der zu den gängigsten Mythen aufklären soll. Etwa: Auch auf Flächen, die besser geschützt werden, könne weiterhin Landwirtschaft betrieben werden. Die Ernährungssicherheit werde eher durch das heutige Modell gefährdet, so der Tenor. Das Gesetz sei ein zentraler Baustein für die Klimaneutralität.

"Die Kommission hat ein sinnvolles Gesetz auf den Weg gebracht", sagt Mitinitiator und Agrarökonom Sebastian Lakner von der Universität Rostock. Allerdings habe sie nicht geschickt kommuniziert und sei zu wenig auf kleine fachliche Probleme eingegangen. Detailfragen seien zur Pauschalkritik geworden. So wurde etwa für existierende Schutzgebiete für Zugvögel auf Acker ein ganzjähriges Verbot von Düngemitteln und Pestiziden gefordert, was man im Sinne des Schutzziels auch flexibler hätte gestalten können, sagt er. "Insgesamt haben wir erlebt, dass die EVP die Debatte stark emotionalisiert hat und Informationen verbreitet hat, die das Bild verzerren", meint Lakner. Aus seiner Sicht bleiben ein großes Problem bestehen: Auch in vielen heutigen Naturschutzgebieten gibt es erhebliche Defizite – trotz Schutzzonen und Managementplänen. Es wäre schlicht nötig, mehr Geld und personelle Kapazitäten in die Umsetzung vor Ort zu stecken, fordert Lakner.

Berichte zur Umsetzung

Der Gesetzesentwurf geht nun in die Verhandlungen zwischen dem Rat und dem Parlament. "Obwohl die Mehrheit im Rat knapp war, denke ich, dass sich die Positionen jetzt so weit angenähert haben, dass die Verordnung demnächst verabschiedet wird", sagt der Politikwissenschafter Henning Deters von der Universität Wien.

Deters erklärt, was nach den Verhandlungen passiert: "Es ist eine Verordnung, also unmittelbar wirksam, ohne dass die nationalen Parlamente sie noch in nationales Recht umwandeln müssen." Der Entwurf mache konkrete Vorgaben, wie dass Flächen von gewisser Größe ausgewiesen werden, um sie wiederherzustellen. Die Mitgliedsstaaten müssten Pläne bei der Kommission einreichen, welche Gebiete das seien und wie die Umsetzung aussehen solle. "Die Kommission prüft und bewertet das, und die Mitgliedsstaaten müssen dem laut Entwurf 'gebührend Rechnung tragen'."

Diese Vorgabe zur Berichterstattung war einer der Gründe, warum sich die Bundesländer in Österreich gegen das Gesetz stellten. Das zeigt die unveröffentlichte Stellungnahme, die dem STANDARD vorliegt. In ihr plädieren die Länder dafür, dass nicht sie, sondern die Kommission berichten solle. Die Ablehnung der Länder war auch der Grund, warum sich Österreich im Rat enthielt.

Lakner will solche Argumente nicht mehr gelten lassen, der Ansatz der vergangenen zwanzig Jahre habe nicht funktioniert. "Wir müssen endlich ins Lösen kommen." (Lisa Breit, Alicia Prager, 12.7.2023)