Wien – In der Diskussion über Lücken im Gesundheitswesen und wie man diese füllen könne, wird sie immer wieder aufs Tapet gebracht: eine mögliche Berufspflicht für Absolventinnen und Absolventen des Medizinstudiums. Die Ärztekammer hat stets dagegen argumentiert.

Die Wiener Ärztekammer hat kurzerhand bei Karl Stöger, Professor für Medizinrecht an der Universität Wien, ein Gutachten dazu in Auftrag gegeben. Dieses liegt dem STANDARD vor und besagt, dass der Vorschlag, der unter anderem von Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) propagiert wurde, sowohl verfassungswidrig als auch unionsrechtswidrig wäre, wie Stöger in seinem Fazit festhält. 

Spitalsärzte Arbeitspflicht öffentliches Gesundheitssystem
Zur Arbeit in öffentlichen Krankenhäusern kann man als Medizinabsolventin oder Medizinabsolvent nicht verpflichtet werden, besagt nun ein Gutachten, das die Ärztekammer in Auftrag gegeben hat.
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"Etwas zurückgeben"

Aufs Tapet gebracht hatte das Thema Kanzler Nehammer im Frühjahr, als er beim Thema Ärztemangel in seiner "Zukunftsrede" forderte, eine "Berufspflicht" einzuführen "für die, die das Studium in Österreich abschließen, um der Gesellschaft etwas zurückzugeben". Jugendstaatssekretärin Claudia Plakolm (ÖVP) pflichtete dem Kanzler bei und präzisierte: "Wir investieren in jeden Medizinstudenten 360.000 Euro. Deshalb halte ich die vorgeschlagene Verpflichtung von Medizinstudenten, fünf Jahre in Österreich praktizieren zu müssen, für einen wichtigen Vorschlag", erklärte sie. Auch der Wiener Gesundheitsstadtrat Peter Hacker (SPÖ) kann der Idee etwas abgewinnen, wie er in Interviews immer wieder sagte.  

In dem 31-seitigen Gutachten führt Stöger aus, dass laut Europäischer Menschenrechtskonvention (EMRK) der "Einsatz der menschlichen Arbeitskraft grundsätzlich der freien persönlichen Selbstbestimmung unterliegen muss". Es bedürfe da einer Abwägung der Gesamtumstände unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit, hält Stöger fest. Ein Notstand, der Ausnahmen ermöglichen würde, sei die "strukturell bedingte, dauerhafte 'Schlechtverteilung' von Ärztinnen und Ärzten" aber jedenfalls nicht.

Verhältnismäßigkeit zu prüfen

Weiters führt Stöger aus, dass die gesetzliche Tätigkeitsverpflichtung auch das Grundrecht der Erwerbsfreiheit betreffen würde. Auch hier wäre die Verhältnismäßigkeit zu prüfen. Weiter könnte der Gleichheitsgrundsatz von Bedeutung sein, da das Instrument der Arbeitsverpflichtung bei anderen Berufen nicht vorgesehen ist. Die unionsrechtliche Dimension sei ebenfalls zu beachten, da die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit berührt würden und daher einer Rechtfertigung sowie ebenfalls eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit erforderlich wären. 

Ob eine solche Verpflichtung verhältnismäßig wäre, so heißt es weiter in dem Gutachten, hänge davon ab, ob sie durch ein öffentliches Interesse geboten und das gelindeste Mittel wäre, um das Ziel zu erreichen. Zwar sieht Stöger durchaus ein öffentliches Interesse als gegeben an, allerdings gebe es mehrere Bedenken, ob das Mittel überhaupt geeignet wäre, um Engpässe abzudecken. Stöger führt hier unter anderem ins Treffen, dass man mit einer abschreckenden Wirkung rechnen müsse, wodurch ohnehin schon vom Mangel betroffene Fächer weiter an Attraktivität für potenzielle Interessentinnen und Interessenten verlieren könnten.

Stöger führt gelindere Mittel an

Weiter führt der Medizinrechtler an, dass in Österreich nicht ein genereller Ärztemangel bestehe, was an der Vielzahl an Wahlärzten ersichtlich sei. Es gehe also um ein "Zuteilungsproblem", das bestimmte Fächer und Regionen im öffentlichen System betreffe.  Um dieses zu lösen, gebe es laut Stöger gelindere Mittel, wie beispielsweise attraktivere Arbeitsbedingungen im öffentlichen Gesundheitswesen zu schaffen, zum Beispiel durch Strukturverbesserungen an den Schnittstellen zwischen den verschiedenen Bereichen oder Änderungen im Wahlarztbereich, die das Arbeiten im öffentlichen System dann im Vergleich nicht so viel weniger attraktiv sein ließen.

In Bezug auf das Argument der hohen Kosten für die ärztliche Ausbildung führt Stöger an, dass die Ärztinnen und Ärzte dem öffentlich finanzierten Gesundheitswesen für diese Zeit ohnehin auch zur Verfügung stehen und für besonders teure Studienplätze (also nicht nur die Humanmedizin) eine Studiengebühr in Form eines staatlichen Studienkredits denkbar wäre. Diese zu reduzieren oder entfallen zu lassen ließe sich wiederum mit einer Tätigkeit im öffentlichen Gesundheitssystem koppeln.

Kammer freut sich

Bei der Ärztekammer sieht man sich durch Stögers Gutachten bestätigt: "Was gezeigt werden musste, wurde nun gezeigt: Jegliche berufliche Zwangsverpflichtungen von Ärzten sind nicht nur verfassungswidrig, sondern widersprechen auch EU-Recht", freute sich Harald Mayer, Vizepräsident der Österreichischen Ärztekammer und Bundeskurienobmann der angestellten Ärzte am Donnerstag in einer Aussendung. Die Lösung seien vielmehr attraktivere Arbeitsbedingungen in den Spitälern, die Anhebung der Gehälter, aber auch mehr Dienstposten in den Spitälern zu schaffen sowie die Attraktivierung des niedergelassenen Bereichs.

Zu dem Thema zurückhaltend äußerte sich ÖVP-Bildungsminister Martin Polaschek am Rande einer Pressekonferenz. Zur Umsetzung der Berufspflicht gebe es verschiedene Rechtsmeinungen, und man prüfe das gerade. Derzeit sei es noch zu früh, um einschätzen zu können, wie der Vorschlag einer Berufspflicht umgesetzt werden könne. "Über Details kann man jetzt noch nicht sprechen", sagte der Minister laut Austria Presseagentur.

Allerdings hat auch der an der Universität Innsbruck lehrende EU-Recht-Experte Peter Hilpold bereits in der Vergangenheit gesagt, dass er eine Tätigkeitsverpflichtung als EU-rechtswidrig einstufen würde. Sein Kollege Walter Obwexer hat hingegen eine allgemeine und österreichweite Berufspflicht grundsätzlich für möglich eingestuft – mit der Begründung, dass aufgrund des Ärztemangels sonst die angemessene medizinische Versorgung der Bevölkerung in Gefahr wäre. (Gudrun Springer, 13.7.2023)