Tess Gunty, die aktuelle Trägerin des ­National Book Award.
Verlag Kiepenheuer & Witsch

Den Hauptcharakter des eigenen Buchs gleich auf Seite zwei aufschlitzen? Tess Gunty tut es. Auf den folgenden rund 400 Seiten ihres Debütromans Der Kaninchenstall erfahren wir dann, wie es dazu kam, dass "Blandine Watkins in Apartment C4 ihren Körper verlässt". Und es ist ein wilder Ritt bis zum Schnitt.

Gunty, Jahrgang 1993, wohnhaft in Los Angeles, ist die jüngste Preisträgerin des prestigeträchtigen nordamerikanischen National Book Award for Fiction seit Philip Roth. 2022 hat sie ihn für The Rabbit Hutch, wie ihr Debüt im Original heißt, erhalten. Damit einher gingen auch die großen Erwartungen und Vergleiche. Nicht weniger als die neue David Foster Wallace soll Tess Gunty sein.

Tiere töten, Foren moderieren

Dass Verlage und ihre Presseabteilungen ihre Autoren und Autorinnen gerne mit dem ohnehin fragwürdigen Genie-Nimbus umgeben, um Bücher zu verkaufen, ist nicht verwunderlich, messen sollte man die Bücher an den Vergleichen nicht – zumeist ist das gegenüber beiden miteinander Verglichenen unfair. Was schon stimmt, ist, dass Guntys Kaninchenstall genauso wie Wallaces Unendlicher Spaß zahlreiche tragikomische Charaktere und irrwitzige Handlungen verfolgt, von denen jede und jeder ein eigenes Spin-off vertragen würde.

Gunty nimmt vor allem, aber nicht nur die Bewohnerinnen und Bewohner des sogenannten Kaninchenstalls ins Visier. Dabei handelt es sich um einen Apartmentkomplex im fiktiven Vacca Vale, einer gefallenen Autohochburg im Rust Belt, "eine dieser ausgemusterten Einwegstädte, derentwegen Demagogen gewählt werden, die ihr Land zu einem Müllfeuer dezimieren".

Elaborierte Huscher

Da ist Joan in Apartment C2, die ihr Geld damit verdient, Nachrufe auf verstorbene Promis zu schreiben und respektlose Forumskommentare zu löschen, da ist Hope in C8, die unter einer postnatalen Depression zu leiden scheint und panische Angst vor den Augen ihres Neugeborenen hat, da sind drei Teenager-Burschen, die aus Langeweile Tiere töten und mit denen sich die Hauptfigur Blandine das Apartment teilt.

Niemand in diesem Buch hat keinen elaborierten Huscher. Klingt nach Effekthascherei? Zu viele Ideen verderben den Brei? Nein! Gunty kriegt immer die Kurve, obwohl sie permanent auf dem Gas steht. Längen sucht man hier vergeblich. Nicht nur gelingt es der Autorin, all ihre Miniaturen gekonnt miteinander zu verweben, sondern auch durch die Kombination all dieser Charaktere und Handlungen die Funktionsweise einer spätkapitalistischen Gesellschaft und die Traumata, die sie erzeugt, in Prosa mit Verve zu verwandeln.

Mit den Mitteln der Überzeichnung lässt sich die Realität oft am besten auf den Punkt bringen, weiß Gunty.

Tess Gunty, "Der Kaninchenstall". € 25,– / 416 Seiten. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023.
Kiepenheur & Witsch

Prägnante Beobachtungen

Von Klassenfragen bis zu #MeToo, Influencertum bis zur künstlichen Intelligenz streift Gunty aktuelle Debatten, ohne sich dabei aber an einer Checkliste abzuarbeiten, wie es bei Literatur, die den Zeitgeist abbilden will, öfter der Fall ist. Hier wirkt nichts erzwungen oder anbiedernd – immer wieder kann man sich an prägnant formulierten Beobachtungen erfreuen, etwa wenn Gunty zwei Mädchen miteinander reden lässt, von denen die eine über den Zustand ihrer Haut sagt: "Schau mich an. Es sieht aus, als würde mir das Gesicht aus dem Gesicht fallen."

Mit der von mittelalterlichen Mystikerinnen faszinierten 18-jährigen Blandine schafft Gunty eine Hauptfigur, die einem so schnell nicht mehr aus dem Kopf geht. Eine in Pflegefamilien aufgewachsene, hochintelligente junge Frau, die blöderweise einmal zu oft verletzt wurde, um sich aus dem Sumpf, der Vacca Vale ist, zu befreien.

Obwohl Der Kaninchenstall fast ausschließlich von traurigen Gestalten ohne Perspektiven bevölkert ist, macht Guntys absurder Humor, ihre Lust am Erzählen und ihr Gespür für Details dieses Debüt zu einem genussvollen Leseerlebnis. Und ehrlich gesagt: So großartig und unvergleichlich David Foster Wallace auch ist, das hier ist weniger anstrengend. (Amira Ben Saoud, 15.7.2023)