Was ist Männlichkeit, und kann (oder soll) das weg?

Ein*e nonbinäre Buchpreisträger*in scheitert an einem relativ kurzen Auftragstext. Ein Mittdreißiger konfrontiert sich und uns mit seiner sexuellen Übergriffigkeit. Eine österreichische Ikone dokumentiert körperlichen Verfall und unerfülltes homosexuelles Begehren. Ein Erzähler mit türkischen Wurzeln liest Thomas Mann qu(e)er – und postkolonial. Die lose Gemeinsamkeit zwischen den Texten ist folgende – sie stellen alle einen Versuch dar, die Frage zu beantworten: Was ist Männlichkeit, und kann (oder soll) das weg?

Der Begriff der Männlichkeit – oft gemeinsam mit dem Attribut "toxisch" – rückte in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus der öffentlichen Debatte. Vorstellungen von Männlichkeit als dominant, stark, emotionslos, rational und dergleichen werden kritisiert und dekonstruiert. Gleichzeitig verspricht eine andere Bewegung jungen perspektivlosen Männern ein sinnerfülltes Leben qua Rückkehr zu traditionellen und simplen Männlichkeitsbildern, insbesondere im Internet und dank Social-Media-Kurzformaten. Zu den beliebtesten männlichen Influencern gehören kontroverse Figuren wie der misogyne Ex-Kickboxer Andrew Tate – mittlerweile wegen Menschenhandels, Vergewaltigung und organisierter Kriminalität angeklagt – und der rechtskonservative Pseudophilosoph Jordan Peterson, einer der Frontmänner des internationalen transfeindlichen Backlashs.

Bunte Mischung

Das "Debattenbuch" Oh Boy. Männlichkeit*en heute möchte an dieser Stelle einen Beitrag leisten. Herausgeber*innen Valentin Moritz und Donat Blum sammelten neunzehn Beiträge, die sich mehr oder weniger explizit mit sogenannter Mannwerdung, Gender-Dynamiken, Jugend und Aufwachsen, Gewalt und Begehren beschäftigen.

Diese "Selbstbefragungen" liefern unter anderem publikumswirksame Namen wie Buchpreisträger*in Kim de l'Horizon, Hermes Phettberg und Daniel Schreiber; und in den Texten wechseln sich Reflexionen, Gedanken und Bekenntnisse von (cis) Männern mit Beiträgen von homosexuellen, queeren, nonbinären und solchen Autor*innen ab, die das Selbst fluider definieren.

Die Art der Texte reicht von literarisch-experimentell über essayistisch-didaktisch bis hin zu introspektiv-autobiografisch. Die besseren Texte fallen meist in die erste Kategorie, während die Beiträge mit stärker subjektiven und quasi-auftragspädagogischen Merkmalen leider oft Allgemeinplätze abgrasen, von der einen Banalität zur nächsten hüpfen und im Allgemeinen all jenes simplifiziert widerspiegeln, was anderswo innerhalb der queeren, trans, feministischen und kritisch-männlichen Literatur und Philosophie und nicht nur akkurater, sondern auch genussvoller zu lesen ist.

Kim de l'Horizon auf der Frankfurter Buchmesse.
IMAGO/STAR-MEDIA

Einschränkende Perspektive

Konzeptionell und formell stechen die Beiträge von Michael Fehr und Thomas Köck heraus. Die Rekruten und der Räuberhäupling ist ein Kürzesttext mit Fabel- und Märchenmerkmalen, der als große Metapher auf Männlichkeitsnormen zu interpretieren ist, aber gleichzeitig obskur und klug genug ist, um dabei produktive Lücken und Reibung zu schaffen. Köcks Text erforscht Körper als Fleisch, Schnitt- und Berührungsstelle; er "manövriert" dabei "durch den scherbenhaufen in dieser sprache", ohne belehrend zu werden oder in Klischees zu verfallen.

Doch die Mehrheit der Texte in der Sammlung gefällt sich in der linear erzählend-erklärenden Pose. Auch Kim de l’Horizons Text übers Scheitern beim Textverfassen (ein Motiv, das sich enttäuschenderweise auch anderswo im Buch wiederholt) überzeugt wenig; der Einzug einer Metaebene wirkt passé, ein Relikt aus der Blütezeit der postmodernen Metafiktionen in den Nuller- und Zehnerjahren. Wollte man den oder die Autor*in ungnädig zitieren, müsste man sagen: "Gähn, metagähn." Generell steckt das Buch tief fest in den autobiografischen Anknüpfungspunkten und Codes der Millennial-Generation, heute Mittdreißiger, und auch das Bemühen um große Diversität bei den Autor*innen und Textbeiträgen kann es nicht wirklich von dieser einschränkenden Perspektive befreien. Nicht nur angesichts der Entwicklungen einer Art neuen Maskulinismus im Internet wäre dies aber besonders wünschenswert gewesen.

Donat Blum und Valentin Moritz (Hg.), "Oh Boy – Männlichkeit*en heute". Mit einen Comicstrip von Joris Bas Backer. Das Nachwort stammt von Mithu M. Sanyal. € 22,60 / 238 S. Kanon, 2023.
kanon

Angstpunkte

Es genügt leider nicht, dass dieses Buch existiert und dass die meisten Texte zumindest auf der Oberfläche und nominell kritisch und selbstreflexiv sind – die Messlatte muss höher angelegt werden. Von einer literarisch-kritischen Auseinandersetzung mit "Männlichkeit*en heute" sind innovativere Formen und aktuellere Bezugspunkte zu erwarten; nicht nur die nächste unter abertausenden linear erzählten Kurzgeschichten über das zerrüttete Verhältnis zum eigenen Vater oder zum angriffslustigen Jungen, der damals in der Kindheit populärer war als man selbst. Denn Erzählkonventionen und Stoffe sind wichtige Bausteine der Konstruktion der Kategorie "Mann", und um Männlichkeiten umzudefinieren, müssen auch diese neu evaluiert werden.

Selbst- wie Fremdansprüchen nicht zu genügen erscheint in den Texten des Sammelbandes durchgehend als ein großer wunder und Angstpunkt. Junge, Junge. Scheitern und Männlichkeit: Vielleicht liegt in der Erforschung dieses Verhältnisses der Ansporn für einen nächsten Anlauf dieser prinzipiell begrüßenswerten literarischen Entwicklung. (Olja Alvir, 14.7.2023)