Schriftsteller und Historiker Doron Rabinovici schreibt in seinem Gastkommentar über den Umgang mit der Vergangenheit und über Versäumnisse Österreichs.

Der nazistische Massenmord ist das Menetekel der offenen Gesellschaft. Eine Zivilisation, die auf Vielfalt und Diversität beruht, kann nicht anders, als in der Vernichtung derjenigen, die als andersartig gebrandmarkt wurden, die größte anzunehmende Katastrophe zu sehen. Kein Wunder, wenn in vielen Metropolen weltweit Museen errichtet wurden, die an dieses Verbrechen gemahnen. Die Gedenkstätte Yad Vashem wurde bereits 1953 gegründet, denn hier – in Israel – sollte ein Platz gegen die Auslöschung jüdischer Existenz entstehen. Mittlerweile können viele solche Zentren besucht werden, ob in Washington oder in Los Angeles, ob in Paris, Amsterdam, Thessaloniki, Budapest, Buenos Aires, in Johannesburg, Montreal, Melbourne oder auch im brasilianischem Curitiba, um nur einige zu nennen.

Das Argument, Österreichs Hauptstadt brauche kein solches Museum, da hier die heimischen Tatorte – wie etwa in Mauthausen – ohnehin ausreichten, verfängt nicht, denn ein Blick nach Deutschland genügt, um diese Ausrede zu widerlegen. Wie eindrücklich wirkt doch die "Topographie des Terrors" in Berlin, bedeutsam auch das NS-Dokumentationszentrum in München. Anders als in den Gedenkstätten ehemaliger Konzentrationslager kann in solchen Häusern die ganze Monstrosität der nazistischen Verbrechen angesprochen werden – die totalitäre Verfolgung Andersdenkender, der Vernichtungskrieg oder auch der verwaltete Massenmord an Unzähligen.

Gedenken Österreich Museum 
Die Gedenkstätte Yad Vashem in Israel wurde bereits im Jahr 1953 gegründet.
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Der Staat, der nach 1945 nichts als das erste Opfer Hitlers gewesen sein wollte, ist eben immer noch ein Nachzügler, wenn es um die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit geht.

Nun fordert Oskar Deutsch, der Präsident der jüdischen Gemeinde, ein "Shoah-Zentrum" für Wien. Dies, so Deutsch, sei umso wichtiger, da bald auch die letzten der Überlebenden verstorben sein werden. Aber so eine Institution wäre schon längst notwendig gewesen, weil sie eben nicht bloß ein Mausoleum sein sollte. Die Dauerausstellung des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes im Alten Rathaus ist zwar verdienstvoll, doch allzu klein. Das Jüdische Museum berührt immer wieder Aspekte der Vernichtung, ist aber keineswegs darauf reduziert und deckt nicht alle unterschiedlichen Opfergruppen ab. Im Haus der Geschichte Österreich stehen wiederum die nazistischen Verbrechen, die ja weit über die Grenzen des Landes hinausreichen, nicht im Mittelpunkt der Vermittlung.

Unterstützung für seinen Vorschlag erfährt Deutsch von Ministerin Karoline Edtstadler und dem Parlamentspräsidenten Wolfgang Sobotka, mithin ausgerechnet von jenen, die Koalitionen mit Freiheitlichen, die Lieder von der siebenten Million ermordeter Juden zu singen wissen, verteidigen und zu den antisemitischen Auslassungen, die der ungarische Premierminister Viktor Orbán im Kanzleramt von sich gab, vernehmlich und unüberhörbar schwiegen.

Wir sind Zeugen einer Politik, die das Gedenken weihevoll zelebriert, doch zugleich vor Packelei mit rechtsextremen Scharfmachern und vor Stimmungsmache gegen alles Fremde und "Abnormale" nicht zurückschreckt. Die Beschäftigung mit dem Nazismus erstarrt so zum Ritual, damit der Einklang mit den einschlägigen Geschichtsleugnern und den völkischen Hasspredigern nicht gestört wird.

Erinnerung schärfen

Die Arbeit an der Erinnerung war aber von Anfang an Widerstand gegen die Untat der Auslöschung. Der Versuch, die Shoah – in all ihrer unfassbaren Widersinnigkeit – darzustellen, wird nie vollends glücken, kann nie abgeschlossen, sondern immer nur eine Annäherung sein und muss je neu angegangen werden. Eine Ausstellung, die etwa vor Jahrzehnten entworfen wurde, wird uns nicht mehr ansprechen. Die bloße Wiederholung vermag nicht zu genügen.

Ein österreichisches Zentrum, das nun die Gräuel der nazistischen Verbrechen erhellen möchte, müsste auch von jenen Verfolgten erzählen, die allzu gerne totgeschwiegen werden, weil sie – wie etwa Roma oder Homosexuelle – noch in manchen Ländern Europas weiterhin diskriminiert sind. Ebenso gilt es, von der Schuld heimischer Schergen und Henkershelfer nicht zu schweigen. Vor allem aber geht es um das Vergegenwärtigen der Vergangenheit, nicht jedoch um die Historisierung und die Sakralisierung dessen, was seit Auschwitz in der Welt ist und uns weiterhin droht. Was sollen die Parole "Den Anfängen wehren" oder das "Nie wieder" noch taugen, wenn längst die Feinde der offenen Gesellschaft auf dem Vormarsch sind?

Der Historiker Saul Friedländer warnte früh vor dem "Widerschein des Nazismus". Seit Jahrzehnten wird erörtert, wie die Erinnerung an die Vernichtung geschärft werden kann, damit das Leid der Millionen nicht missbraucht wird zur Legitimation neuerlichen Unrechts und zur wohligen Bestätigung eigener Selbstgerechtigkeit und "Normalität". Zuweilen klingen manche politische Aussagen hierzulande, als wäre Ganz normale Männer, die Studie von Christopher Browning über die mörderischen Einsatzkommandos, nie erschienen.

Umso wichtiger wäre es – auch unter maßgeblicher Einbeziehung des 1963 von Überlebenden gegründeten Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes und aller anderen einschlägigen Einrichtungen –, ein Zentrum zu gestalten, das nicht der Ritualisierung des Gedenkens dient, sondern die Wachsamkeit gegenüber Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus stärkt. (Doron Rabinovici, 15.7.2023)