Sandra Weiss aus Puebla

Nach acht Jahren relativer Funkstille zwischen Lateinamerika und der Europäischen Union soll der am Montag beginnende Gipfel in Brüssel wieder an den alten transatlantischen Freundschaftsfaden anknüpfen. Man braucht schließlich einander: Lateinamerika europäische Investitionen und Schulden-Swaps, die EU lateinamerikanische Rohstoffe für die Energiewende, von Wasserstoff über Kupfer bis Lithium. Doch schon im Vorfeld wurde klar: Die geopolitische Weltlage hat sich verändert. Lateinamerika ist dem Status des Juniorpartners entwachsen und gleichzeitig zerstrittener als je zuvor. Auch in der EU gibt es konträre Interessenlagen. Das macht gemeinsame Initiativen schwierig.

Lateinamerika EU Mercosur
Die Präsidenten Boliviens (Luis Arce), Paraguays (der designierteSantiago Peña und der amtierende Mario Abdo Benítez), Argentiniens (Alberto Fernández), Brasiliens (Luiz Inácio Lula da Silva) und von Uruguay (Luis Lacalle) beim Mercosur-Gipfel Anfang Juli in Puerto Iguazu, Argentinien.
AFP/NELSON ALMEIDA

Die Europäer haben einiges besser gemacht als die US-Regierung vor einem Jahr: Deren Amerikagipfel scheiterte schon im Vorfeld, weil die Diktatoren aus Venezuela, Kuba und Nicaragua nicht eingeladen wurden. Daraufhin blieb auch der Präsident des wichtigsten Handelspartners Mexiko zuhause - und in seinem Kielwasser noch einige mehr, deren Beziehungen zu Washington aus unterschiedlichen Gründen nicht die besten sind. Man traf sich zwar trotzdem, aber wichtige Entscheidungen werden seither zunehmend im bilateralen Verhältnis getroffen, und die USA konzentrieren sich auf ihren Wirtschaftsraum (USMCA) mit Kanada und Mexiko.

EU spricht auch mit Diktatoren

Für Europa ist das keine Option. Man ist stolz auf die EU, die – lang ist's her – auch ein Vorbild für lateinamerikanische Integrationsbemühungen wie den Gemeinsamen Südamerikanischen Markt (Mercosur) war. Die Europäer wollten daher ein multilaterales Zeichen setzen und – werteorientierte Außenpolitik hin oder her – mit allen 33 Staatschefs sprechen, deren Länder der Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten angehören (CELAC). Das ist diplomatische Realpolitik – und gleichzeitig ein Zeichen dafür, dass man sich aus dem Fahrwasser der in Lateinamerika kritisierten unilateralen US-Politik befreien will. Der traurige Höhepunkt war dabei 2019 die Anerkennung des venezolanischen Oppositionsführers Juan Guaidó zum "legitimen Präsidenten". Europa stolperte damals US-Präsident Donald Trump hinterher, direkt in ein außenpolitisches Fiasko.

Die neue EU-Strategie birgt aber auch Gefahren: Da ist zum einen die Glaubwürdigkeit gegenüber den eigenen Wählern und Wählerinnen. Und da sind die Störfeuer durch die Diktatoren, die mittlerweile China, dem Iran und Russland nahestehen. Schon im Vorfeld warfen diese Länder reichlich Sand ins Getriebe, um den Gipfel zu sabotieren: Venezuelas Machthaber Nicolás Maduro beispielsweise erteilte der EU eine Absage für eine Wahlbeobachtung 2024. Kubas Machthaber Miguel Diaz-Canel kritisierte die Forderung des EU-Parlaments, Sanktionen gegen ihn wegen der Repression der Proteste zu verhängen. Die autoritäre Regression dieser Länder ist bedauerlich, und diplomatische Professionalität wird von Nöten sein, damit der Gipfel ihnen keine exhibitionistische Plattform bietet.

Lula als Sprachrohr

Bei den Schlüsselthemen wird wohl kein Weg an Brasiliens Präsident Luiz Inácio "Lula" da Silva vorbeiführen. Er hat sich durch seine aktive Diplomatie zum Sprecher des neuen, lateinamerikanischen Selbstbewusstseins aufgeschwungen und zahlreiche Staaten hinter der Doktrin der "aktiven Blockfreiheit" vereint. Lateinamerika will keine Stellung beziehen in den Konflikten des Westens mit China und Russland, sondern daraus den größtmöglichen Vorteil ziehen. Das ist verständlich. Lateinamerika hat deshalb den Angriffskrieg auf die Ukraine zwar nahezu einhellig verurteilt, Sanktionen hat jedoch kein Land verhängt. Lula versucht sich als Vermittler und unterhält gute Beziehungen zum russischen Präsidenten. Die EU wäre klug beraten, diese Brücke auch im eigenen Interesse zu nutzen, statt sie zerschlagen zu wollen.

Auch beim Thema Handel ist die Ausgangslage komplexer geworden: Längst gibt es keinen globalen Konsens mehr über den Freihandel angesichts seiner negativen Folgen, sichtbar in Umweltzerstörung, Ungleichheit und Klimawandel. Mit China ist ein ernsthafter wirtschaftlicher Konkurrent für die Europäer auf den Plan getreten, und Lateinamerika stellt nun selbstbewusst Forderungen nach fairen Wettbewerbsbedingungen. So will Lula beispielsweise den europäischen Firmen keinen gleichberechtigten Status bei öffentlichen Ausschreibungen geben und das Umwelt-Zusatzprotokoll zum Freihandelsvertrag zwischen Mercosur und EU nicht akzeptieren, denn ihm setzt die mächtige Agrarlobby die Pistole auf die Brust. In der EU dürfte jedoch ein Freihandelsvertrag mit dem Mercosur ohne Umweltgarantien wenig Aussicht auf Ratifizierung haben. Da ist kreative Diplomatie gefragt, damit beide Seite das Gesicht wahren können.

Rohstoffe in Lateinamerika

Noch ist das Rennen um Lateinamerika nicht entschieden. China war zwar schneller und hat sich wichtige Rohstoffvorkommen und strategische Infrastruktur in Lateinamerika gesichert. Aber in der lateinamerikanischen Bevölkerung sind die westlichen Demokratien das Ideal, nicht der chinesische Überwachungs- und Repressionsapparat. Auch wenn Lateinamerikas Elite gerne Geschäfte mit China macht, weil es flotter geht, weniger Auflagen und gute Schmiergelder gibt, haben viele Regierungen auch die Schattenseiten erkannt.

So sind chinesische Kredite oft drakonischer als die des IWF und führen in die Schuldenfalle, wie etwa in Venezuela. Schlüsselfertige Großbauten haben Qualitätsprobleme, wie beim korruptionsbehafteten Staudamm Coca-Coda Sinclair in Ecuador zu sehen war. Sie führen auch zu Konflikten mit der lokalen Bevölkerung, was bei diversen Bergbau- und Ölprojekte geschehen ist. Mit Investitionen, die auch auf langfristigen Wissenstransfer, Ausbildung und Wertschöpfung vor Ort setzen, könnten die Europäer daher gegenüber China punkten. Und gleichzeitig einen Beitrag zu Fortschritt und demokratischer Stabilität leisten, in einer Region, die zunehmend von der Mafia und autoritären Populisten destabilisiert wird. (Sandra Weiss, 17.7.2023)