Ukraine, Kulturkampf
Wenn es nach dem Willen des Kiewer Stadtparlaments geht, wäre so ein Plakat wie jenes von 2009 anlässlich des 200. Geburtstags von Nikolaj Gogol nicht mehr möglich. Oben steht auf Ukrainisch: "200 Jahre Geburtstag von M. W. Hohol." Unten auf Russisch ein Zitat des Schriftstellers: "Herrlich ist der Dnjepr bei heiterem Wetter ... Es gibt keinen Strom in der Welt, der ihm gliche ... N. Gogol".
Herwig G. Höller

Mehr als 500 Tage sind seit dem Beginn von Russlands Krieg gegen die Ukraine vergangen, und stetige nächtliche Luftangriffe rauben der Bevölkerung der Hauptstadt ihren Schlaf. Vor diesem Hintergrund zunehmender Zermürbung hat das Stadtparlament von Kiew am vergangenen Donnerstag ein "Moratorium für die öffentliche Verwendung von russischsprachiger Kulturproduktion" beschlossen. Dass der politisch zuletzt angezählte Bürgermeister Vitali Klitschko ein Veto gegen die Entscheidung einlegen würde, galt als unwahrscheinlich.

Während sich 2022 als Reaktion auf den Krieg vom ukrainischen Parlament beschlossene Beschränkungen auf russische Staatsbürger bezogen und deshalb die Protestsongs des Leningraders Wiktor Zoj weiter geträllert werden konnten – der Rockstar war 1990 vor der Entstehung des nunmehrigen Russlands verunglückt –, geben sich die Kiewer Abgeordneten radikaler: Ihr "Moratorium", das den "ukrainischen Informationsraum vor hybriden Einflüssen des Aggressorenstaats" schützen soll, betrifft nicht nur Zoj, sondern auch Präsentationen, Aufführungen und Inszenierungen russischsprachiger Werke von Ukrainern. De facto in Kiew verboten wären somit das russischsprachige Œuvre von Nationaldichter Taras Schewtschenko, die Romane von Nikolaj Gogol und Andrej Kurkow, die Filme von Kira Muratowa sowie praktisch alles, was Präsident Wolodymyr Selenskyj vor seiner politischen Karriere für das Fernsehen gedreht hat.

Rechtsstaatlichkeit spielt keine Rolle

"Ich denke, dass das eine Provokation ist, um von den großen Fehlern und Problemen der politischen Führung in der Hauptstadt und von Bürgermeister Klitschko abzulenken", kommentierte der Kiewer Kunstkritiker und Kurator Kostjantyn Doroschenko, der selbst wie viele Intellektuelle in der Ukraine seit 2022 öffentlich kaum noch Russisch verwendet. Er verstehe auch nicht, welche legale Bedeutung diese Erklärung habe, sagte er. Rechtsexperten hegen diesbezüglich keine Zweifel: "Das Kiewer Stadtparlament hat sicher nicht die Kompetenz, derartige Entscheidungen zu treffen", erklärte dem STANDARD der auf Verfassungsrecht spezialisierte Mychajlo Sawtschyn von der Universität Uschhorod. Ähnlich hatte zuvor auch die Rechtsabteilung des Stadtparlaments argumentiert, die den Entwurf im Vorfeld einer vernichtenden Bewertung unterzogen hatte. Rechtsstaatlichkeit spielte jedoch keine Rolle: 71 Abgeordnete votierten für das "Moratorium", und es gab keine einzige Gegenstimme.

Während in Kiew selbst dieser Beschluss eher zurückhaltend kommentiert wurde und auch Selbstzensur zu beobachten war, kommt laute Kritik von Auslandskiewerinnen und -kiewern, die weiterhin häufiger Russisch verwenden als die kriegstraumatisierten Zuhausegebliebenen. Von ihrer Sprache, die keine Beziehung zu "Feinden" habe und einfach eine der Sprachen ihrer Stadt sei, schrieb auf Facebook etwa die in Berlin tätige Fotografin und russisch schreibende Autorin Jewhenija Bjelorussez. Es gebe kein "kulturelles" Verbrechen, das seinerseits ein Verbrechen als Antwort legitimieren würde, argumentierte sie.

Eine Forderung von reaktionärer Seite

Der in den USA lebende Publizist Anatolij Uljanow veröffentlichte am Wochenende ein Manifest, in dem er fehlenden Widerspruch in der Ukraine selbst anprangerte. "Während sie Säuberungswellen gegen ihre Konkurrenten abwarten, planen diese Schweiger in Kiew an die Macht zu kommen. Sie verstehen dabei aber nicht, dass ihre eigene Zukunft sowie die Zukunft der Ukraine fraglich ist", erklärte er auf Facebook. Die reaktionärsten Kräfte der ukrainischen Gesellschaft verwenden die Kriegssituation, um ihre konservativen Reformvorhaben abzuschließen, meinte Uljanow.

"Es wäre naiv anzunehmen, dass diese Entscheidung des Stadtparlaments ein Zufall oder Ausreißer wäre, der ausschließlich mit der Kriegszeit zusammenhängt", erklärte dem STANDARD die in der ukrainischen Hauptstadt lebende Filmkritikerin und Journalistin Aksinja Kurina, die eine weitere Stigmatisierung von russischsprachigen Ukrainern befürchtet.

Anhaltspunkte für ideologische Hintergründe des "Moratoriums" liefert jedenfalls die Biografie des verantwortlichen Abgeordneten: Der studierte Historiker Wadym Wassyltschuk, der Spezialist für traditionelle "Kosaken-Kampfkunst" ist, arbeitet hauptberuflich in der Kiewer Mohyla-Akademie. Diese Universität, die sich als nationale Kaderschmiede positioniert, hat mit Kunstzensur einschlägige Erfahrungen: Als 2012 zentrale Vertreter der jungen Kiewer Kunstszene, darunter auch die Fotografin Bjelorussez, im Mohyla-Kunstzentrum Körperkunst zeigten, sprach der damalige und heutige Uni-Chef Serhij Kwit von "Scheiße", sperrte die Ausstellung und ließ auch gleich das Zentrum schließen. (Herwig G. Höller, 19.7.2023)