Haarscharf stimmte das EU-Parlament vergangene Wochefür das Renaturierungsgesetz. Dem vorausgegangen war eine hitzige Debatte.Ganze Stadtteile müssten für die Begrünung abgerissen werden – außerdem würde das Gesetz der Landwirtschaft zehn Prozent ihrer Flächen wegnehmen. Mit solchen Aussagen heizte die Europäische Volkspartei (EVP) die Diskussion an. Das ging so weit, dass selbst die EU-Kommission die EVP für die Verbreitung von Falschmeldungen kritisierte. Mittlerweile gestand sogar der deutsche EVP-Abgeordnete Peter Liese ein, seine Partei habe auf Twitter an mancher Stelle übertrieben.

Auch Wissenschafterinnen und Wissenschafter meldeten sich zu Wort: In einem offenen Brief, den über 6.000 Forschende unterzeichneten, widerlegten sie Falschinformationen. Einer der Initiatoren des Briefes ist Josef Settele, Leiter der Naturschutzforschung am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) in Halle. Er ist Autor beim Weltbiodiversitätsrat und beim Weltklimarat. Im Interview erklärt er, was hinter den gängigsten Gerüchten steckt – und worum es bei den jetzt anstehenden Verhandlungen zwischen Parlament und Mitgliedstaaten geht.

Josef Settele leitet die Naturschutzforschung am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) in Halleund ist Mitglied des Sachverständigenrates für Umweltfragen der deutschen Regierung.
André Künzelmann

STANDARD: Warum haben Sie den offenen Brief verfasst?

Settele: Wir hatten den Eindruck, dass fachliche Argumente in der Debatte um das Renaturierungsgesetz in den Hintergrund getreten sind. Wir fanden es wichtig, wissenschaftliche Erkenntnisse einzubringen.

STANDARD: Zum Beispiel?

Settele: Eines der hartnäckigsten Gerüchte ist, dass das Renaturierungsgesetz die Ernährungssicherung gefährdet. Ein anderes Argument, das wir widerlegen ist, dass das Gesetz dem Klimaschutz im Weg steht – etwa weil es den Ausbau der Erneuerbaren ausbremst. Das ist nicht richtig. Es gibt gute Vorschläge für eine Integration von Solarenergiegewinnung und dem Schutz, zum Beispiel, von Gründlandlebensräumen. Außerdem kann die Renaturierung von Mooren entscheidend zum Klimaschutz beitragen.

STANDARD: Die Sorge, dass das Gesetz die Ernährungssicherheit gefährdet, ist oft zu hören. Sie halten sie für unbegründet?

Settele: Das Gesetz ist Teil des Green Deals, bei dem es letztlich darum geht, unsere Wirtschaft und Gesellschaft zu transformieren. Diese Veränderung braucht es nicht zuletzt auch, um unsere Ernährung zu sichern. Das Renaturierungsgesetz soll es schaffen, die Agrarlandschaft vielfältiger zu gestalten. Ein Anstoß könnte sein, dass wir uns stärker auf eine pflanzenbasierte Ernährung konzentrieren. Wir hätten andere Erträge, andere Kulturen. Das Problem besteht derzeit vor allem darin, dass wir auf falsche Wirtschaftsweisen setzen.

STANDARD: Ein Punkt, den Sie thematisieren, ist, dass die Landwirtschaft zehn Prozent der Anbaufläche aufgeben müsste. Was ist da dran?

Settele: Das Gesetz sieht vor, dass zehn Prozent der Flächen stärker geschützt werden sollen. Das heißt aber nicht, dass sie nicht mehr genutzt werden können. Und auch wenn an diesen Stellen Elemente wie Hecken angelegt werden, gehen die Flächen ja nicht flöten. Im Gegenteil können etwa Hecken in Hanglagen vor Erosion schützen. Für die Fläche insgesamt bringen solche Maßnahmen große Gewinne.

STANDARD: Die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie gibt es schon seit 1992. Warum braucht es ein neues Gesetz?

Settele: Der Erfolg war insgesamt sehr mäßig. Viele Arten und Lebensgemeinschaften haben sich negativ entwickelt. Teile des neuen Gesetzes versuchen jetzt, Gebiete, die wir bereits vor langer Zeit unter Schutz gestellt haben, tatsächlich ökologisch zu verbessern.

STANDARD: Die Europäische Umweltagentur sagt, dass 80 Prozent der geschützten Flächen in schlechtem Zustand sind. Wo liegt das Problem?

Settele: Ein Problem ist unsere Auffassung von Schutzgebieten. Wir haben oft die Vorstellung, dass Schutzgebiete einfach völlig ohne Menschen auskommen sollen. De facto sind dasinsbesondere auch in Mitteleuropa oft Kulturlandschaften – also Gebiete, die schon längst durch den Menschen geprägt sind und sich zusammen mit der Nutzung entwickelt haben. In Österreich sind Almen ein Beispiel dafür. Sie sind entstanden, weil der Mensch sie in extensiver Weise nutzt. Wenn dieses Management, diese Nutzung, nicht mehr stattfindet, verlieren sie ihre Eigenschaften, die sie über lange Zeit hinweg gewonnen haben. In den vergangenen 50 Jahren gab es in vielen Gebieten einen Umbruch in der Art der Nutzung. Die 80 Prozent kommen daher, dass das Management in ganz vielen Bereichen im Argen liegt.

STANDARD: Die EVP hat auf Twitter ein Foto geteilt, auf dem Helsinki aus Vogelperspektive zu sehen ist. Teile der Stadt waren durchgestrichen. Die EVP meint, diese Teile der Stadt müssten abgerissen werden. Eigentlich können die Gebiete aber eben schon genutzt werden?

Settele: Genau. Das Ziel, 20 Prozent der Flächen zu restaurieren heißt nicht, dass wir überall wieder Urwälder wollen. Das ist eine Fake-Geschichte, die sich gut eignet, um Angst zu machen.

STANDARD: Die EVP, immerhin die größte Fraktion im Parlament, hat einige solcher Sprüche auf Twitter gepostet. Wie ist die Debatte eigentlich so hochgekocht?

STANDARD: Es gibt allerhand Spekulationen bis hin zur Profilierung von Manfred Weber [Anm. der Vorsitzende der EVP], der demnächst Wahlen in Bayern hat. Er steht angeblich in Konkurrenz mit Ursula von der Leyen, die schließlich statt ihm Kommissionspräsidentin wurde. Also es gibt verschiedenste Faktoren, die alle kaum etwas mit dem Inhalt dieses Gesetzes zu tun haben. Auf Ebene der Mitgliedstaaten, im Rat, kam das Gesetz sehr viel besser an, auch Ministerinnen und Minister aus konservativen Parteien haben dafür gestimmt. Passt ja auch gut zu konservativer Politik: Es geht um die Restauration unserer Kulturgeschichte.

Auch die Landwirtschaft werde von dem Gesetz profitieren, meinen die Forschenden. Es seien aber Anpassungen nötig.
APA/HELMUT FOHRINGER

STANDARD: Das Parlament hat sich geeinigt, einige Änderungen des Gesetzesentwurfs zu fordern. Welche?

Settele: Das Parlament will – mit einer sehr knappen Mehrheit – den Artikel neun zu Agrarökosystemen streichen. Dabei geht es um die große Landschaft, in der wir uns bewegen, von der wir leben und die wir langfristig nutzbar erhalten müssen. Dazu müssen wir Systeme entwickeln, die vielfältiger sind, auch um gegen klimatische Veränderungen gewappnet zu sein. Es wäre wichtig, dass der Artikel im Gesetz bleibt. Ein anderer Artikel, in dem es um den Erhalt der Bestäubungsinsekten geht, ist im Parlament interessanterweise hingegen mit deutlicher Uenterstützung durchgegangen. Bis 2030 soll der Abwärtstrend umgekehrt werden. Themen, die emotional positiver besetzt sind – hier Bestäuber, also insbesondere Bienen – setzen sich eben leichter durch.

STANDARD: Mit diesem Vorhaben ist auch die Pestizidverordnung verknüpft, die den Einsatz von Pestiziden halbieren will. Wie steht es um dieses Gesetz?

Settele: Die Verhandlungen laufen. Für mich ist vor allem interessant, dass wir die Halbierung des Risikos durch Pestizide eigentlich im Dezember in Montreal schon im Rahmen des globalen Artenschutzabkommen zugesagt haben. Wenn sich die ganze Welt auf dieses Ziel verständigen kann und wir dabei waren, dann ist es doch bizarr, dass das auf europäischer Ebene jetzt plötzlich nicht implementiert werden soll.

STANDARD: Viele haben Bedenken, dass eine weitere Reduktion des Pestizideinsatzes die Erträge deutlich senken würde.

Settele: Es gibt eine Studie aus Frankreich, die über 400 Betriebe analysierte. Dort hat sich herausgestellt, dass die Erträge trotz einer Reduktion der eingesetzten Insektizide von 70 Prozent gleichgeblieben sind. Hier haben wir noch viel Potenzial. Schwieriger ist es bei Fungiziden und Herbiziden. Aber die Gleichung weniger Pestizide weniger Ertrag ist jedenfalls so pauschal nicht richtig. Ein kompletter Verzicht auf Pestizide wäre tatsächlich ein großes Risiko, aber eine Halbierung muss eigentlich drin sein.

STANDARD: Mit der Verordnung will die EU ihre Zusage zum globalen Artenschutzabkommen einlösen. Erfüllen wir den Vertrag mit dem Entwurf?

Settele: Wir würden ihm zumindest viel näher kommen. In dem globalen Vertrag wurde festgelegt, dass 30 Prozent der Erdoberfläche geschützt werden sollen, in der EU diskutieren wir Maßnahmen auf 20 Prozent der Fläche Europas. Die Ziele sind also nicht ganz kompatibel, aber es geht in eine ähnliche Richtung. Hätte das Parlament den Entwurf vergangene Woche abgelehnt, wäre das jedenfalls ein sehr negatives Signal gewesen. Es geht auch um unsere Zuverlässigkeit auf der globalen Bühne. (Alicia Prager, 19.7.2023)