Doris Knecht
"Dieses Ich sind wir doch alle", sagte ein Freund von Doris Knecht, nachdem er das neue Buch gelesen hatte.
Hanser Verlag/Heribert Corn

Im Hirn springt sofort der Motor an: Wie war das bei dir selbst? Was würde da stehen? So ist es mir gegangen beim Lesen des neuen Buchs von Doris Knecht. Ich habe es gern gelesen. Es inspiriert, weil es die Erinnerung ankurbelt.

Doris Knecht und ich kennen einander schon lange, seit den Tagen, in denen wir gemeinsam beim Nachrichtenmagazin Profil waren. Das ist lange her. Sie war immer bei den Großen, das denke ich, als ich das Buch zumache, es nachhallen lasse und auf das hübsche Cover starre, auf diesen Buchtitel, der mir richtig gut gefällt: Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe.

In meinem Kopf sehe ich sie durch einen Türspalt an ihrem Schreibtisch sitzen, in der Redaktion des Profil, damals noch in der Wiener Marc-Aurel-Straße. Ich glaube, da raucht sie schon nicht mehr. (Oder doch noch? Ich habe es vergessen.) Jedenfalls bewegt sie beim Anschlagen der Tasten ihren Oberkörper in einem wiegenden Rhythmus vor und zurück. Was sie macht, macht sie hundertprozentig.

Jugendliche Neurose

Das denke ich wieder, als ich sie im Waldviertel für dieses Interview besuche und durch das kleine Tor komme. Da sitzt eine Frau vor ihrem Haus auf dem Land. Neben ihr im Garten ihr Hund, eine Hündin, die jetzt bellt, weil sie mich bemerkt, und ein-, zweimal an mir hochspringt, aber gar nicht so wild, wie Doris Knecht mich vorgewarnt hat. Im Gegenteil, der Hund hat seine jugendlichen Neurosen abgelegt und liegt ganz brav neben dem Stuhl auf dem Boden.

Und noch etwas: Doris Knecht und ich sind schon lange per Du, aber ein Du in einem Interview will ich so nicht stehen lassen, und es passt ohnehin gut zum Spiel mit Wahrheit und Fiktion und zum neuen Knecht-Buch, wenn wir in der verschriftlichten Form des Interviews wieder zum distanzierten Sie wechseln.

STANDARD: Doris Knecht, es ist kompliziert. Im Klappentext steht: "Doris Knecht schreibt über die intime Selbstbefragung einer Frau, die an einem Wendepunkt steht", vorneweg zitieren Sie Virginia Woolf mit dem Satz: "Ich ist nur ein brauchbares Wort für jemanden, den es nicht wirklich gibt", und am Anfang des Kurzkapitels zwei steht: "Ich habe beschlossen, über mein Leben zu schreiben." Wer ist dieses Ich in diesem neuen Buch?

Knecht: Ein Freund, der es schon gelesen hat, meinte: "Dieses Ich, das sind wir doch alle." Ich sehe das Ich nicht wirklich als mich selbst. Aber wer meine Falter-Kolumnen kennt, weiß natürlich, dass die Ich-Erzählerin sich innerhalb meiner biografischen Eckpunkte bewegt. Sie bilden ein Gerüst, in dem viel Fiktion Platz hat. Die meisten Figuren in meinem Buch sind erfunden, auch die Familie in meinem Buch ist nicht meine echte Familie. Es ist keine Autobiographie, es ist ein Roman.

STANDARD: Wann hat sich dennoch herauskristallisiert, dass dieses Buch autofiktionaler wird?

Knecht: Ich mache in meinen Falter-Kolumnen seit mehr als 20 Jahren etwas Ähnliches, indem ich mit einem lyrischen Ich arbeite, das sich nicht immer zwingend mit meiner Person deckt. Es steht für jemanden in einer bestimmten Lebensphase. Mutter- und Elternschaft waren da lange ein Thema. Beim Romaneschreiben war mir klar, dass ich erst einmal was ganz anderes machen, Geschichten erfinden will, schauen, ob ich das kann. Jetzt, nach sechs Romanen, hatte ich große Lust, mit etwas zu arbeiten, das ich immer schon mache. Ich habe auch viel Autofiktionales gelesen, sehr gern Sigrid Nunez, die auch jemanden beschreibt, der ihr sehr ähnlich ist, und dabei vieles über Liebe, Trauer und die Welt erzählt. Irgendwann habe ich mit diesen kleinen Texten, aus denen das Buch besteht, begonnen, habe herumprobiert, es schließlich Agentin und Verlegerin gezeigt, und die sagten: "Mach weiter."

STANDARD: Wie hat der Rechercheprozess für dieses Buch ausgeschaut?

Knecht: Ich bin ja tatsächlich in eine kleine Wohnung umgezogen, das Thema drängte sich auf. Ich musste ausmisten und alle Dinge, die ich besaß, in die Hand nehmen: Brauche ich das noch? Braucht das jemand anderer? Kann das weg? Aus dieser Auseinandersetzung mit Dingen tauchen viele Erinnerungen auf. Ich bin nicht gut im Loslassen, finde es aber dann befreiend. Auch diese Geschichte über die Frage, wie ich mich erinnere, war naheliegend. Ich weiß, dass ich mich oft falsch erinnere, aber auch das hat etwas für sich. Man kann sich auf die Erzählerin im Buch nicht wirklich verlassen, weil sie selbst nicht weiß, ob sie sich an tatsächliche Ereignisse erinnert oder nur an Dinge, die sie immer wieder auf Fotos gesehen hat. Hat sie das, was vorher und nachher passiert, korrekt präsent, oder hat sie sich das dazu ausgedacht? Genau diese Unsicherheit finde ich spannend.

STANDARD: Für die vorangegangenen Romane wurde viel mit Post-its gearbeitet. War das jetzt anders?

Knecht: Es war noch ein schlimmeres Zettelwerk als sonst. Aber das Tolle daran war, dass die einzelnen Teile ja alle irgendwie für sich stehen und immer wieder neu zusammengepuzzelt werden konnten. Das wurde im Lektoratsprozess auch ausgiebig gemacht. Meine Verlegerin ist auch eine großartige Lektorin, aber sie langweilt sich auch schnell. Sie ist erbarmungslos, aber ich habe gelernt, ihr zu vertrauen. Sagen wir so: Einige der Post-its landeten im Papierkorb, und das ist okay so.

STANDARD: "Ich musste mein Zuhause verlassen, um sichtbar zu werden", heißt es an einer Stelle. In dem Buch geht es auch ums Älterwerden, das ist oft mit Unsichtbarwerden verbunden. Schreiben Sie mit diesem Buch dagegen an?

Doris Knecht
Eine sehr ballastbefreite Doris Knecht: "Ich musste ausmisten und alle Dinge, die ich besaß, in die Hand nehmen: Brauche ich das noch? Braucht das jemand anderer? Kann das weg? Aus dieser Auseinandersetzung mit Dingen tauchen viele Erinnerungen auf."
Hanser Verlag/Heribert Corn

Knecht: Ich habe festgestellt, dass ich als eher soziophobe Person dieses Unsichtbarwerden gar nicht so schlimm finde. Die, die mich sehen sollen, sehen mich schon. Ich möchte das allerdings keineswegs generalisieren, da Frauen ohnehin in der Kultur viel zu wenig sichtbar sind. Ihre Lebensumstände, ihre Körper, ihre Fähigkeit, Kinder zu bekommen, ihre Sorgen und Ängsten werden immer noch für weniger relevant gehalten. Frauen haben noch viel zu erzählen, wir haben noch lange nicht alle Themen durch.

STANDARD: Dieser gesamte Downsizingprozess, der sich im Buch abspielt, psychisch, materiell, räumlich etc., ist der leichter zu vollziehen, wenn man vorher etwas erreicht hat?

Knecht: Mir ist es relativ leicht gefallen. Ich fand es sehr befreiend, sich vom Zwang der ständigen Vergrößerung loszumachen. Ich will das Verkleinern nicht verklären, aber der Trend geht schon in diese Richtung. Reduktion ist auch besser fürs Klima.

STANDARD: So gesehen ist das auch ein politisches Buch?

Knecht: Ich komme immer schon gerne übers Private aufs Politische. Wir sind in den 80er-Jahren aufgewachsen, Größe bedeutete Erfolg, Wohnungen, Häuser, Autos, alles wurde immer größer, Energie war billig. Da hat sich in den vergangenen Jahren viel geändert, und damit werden auch neue Parameter für Glück und Erfolg notwendig.

STANDARD: In diesem Buch steckt viel Nachhaltigkeit. Ist man näher am Thema dran, wenn man junge erwachsene Kinder hat?

Knecht: Beim Thema Aktivismus dachte ich immer: Okay, das habe ich lange gemacht, das sollen jetzt die Kinder machen. Aber die Lage ist viel zu dringlich. Wenn man ein Anliegen hat, muss man es vertreten, egal wie alt man ist.

STANDARD: Es gibt sehr schöne Mutterpassagen in dem Buch. Ändert sich mit jeder Generation der Blick aufdie Mütter?

Knecht: Ich sehe Folgendes: Meine Mutter ist nur 21 Jahre älter als ich und lebt trotzdem in einer ganz anderen Welt. Zwischen mir und meinen Kindern beträgt der Abstand fast 40 Jahre, und trotzdem sind wir nicht so weit auseinander. Zwischen den Nachkriegshausfrauen und deren Töchtern, die dann weggegangen sind und etwas anderes machen wollten, tat sich mitunter ein großer Graben auf. Diesen Gap spüre ich zu meinen Kindern nicht. Wir hören teilweise die gleiche Musik, gehen gemeinsam auf Konzerte und ins Kino, tauschen Kleidung aus. Ich finde es schön, dass ich zu meinen Kindern so eine Nähe und Verbundenheit spüre, aber natürlich gibt es Themen, mit denen wir gegenseitig nichts anfangen können. Muss sein. In dieser Blase, in der wir uns bewegen, ist einiges anders als früher.

Man hat uns ja auch immer gesagt, dass man mit seinen Kindern nicht befreundet sein soll. Solange sie klein waren, habe ich für sie Entscheidungen getroffen, klar. Aber jetzt sind meine Töchter lässige, lustige Erwachsene, mit denen ich schon befreundet bin. Und das finde ich auch gut, nicht zuletzt, weil Freundinnen ja sowieso etwas vom Wichtigsten im Leben sind.

STANDARD: In diesem Buch kommen Schwestern vor, die auf dem Land bleiben. Macht das einen Unterschied, ob man von zu Hause weggeht oder nicht?

Knecht: Es gibt sehr unterschiedliche Arten von Provinz, und in jeder spielt sich das Leben anders ab. Aber es ist schon entscheidend, ob man in dem Ortsverband, wo man aufgewachsen ist, bleibt und eine Familie gründet oder ob man weggeht und ganz anders lebt. Das Weggehen von der Herkunftsfamilie erzeugt ein Spannungsfeld – und sicher auch eine Distanz. Es ist eine Entscheidung, inwieweit man diese Distanz dann zu einer Fremdheit werden lässt. Wobei ich persönlich sagen muss: Danke Internet, danke Whatsapp, danke Wordle – in meiner Familie hält man Kontakt, indem man sich jeden Tag via Wordle matcht. Meine Mutter gewinnt gerade immer. (lacht)

STANDARD: Hat dieses Buch auch viel mit Auslassungen zu tun? Mit dem, was man eben nicht mitteilt?

Knecht: Ich wollte kein voyeuristisches Buch über mich schreiben, ich wollte das Porträt einer Frau meiner Generation schreiben, mit Dingen, die einem als Frau ganz automatisch passieren. Es ging aber auch beim Erzählen ums Weg- und Loslassen. Es gab tatsächlich Dinge und ganze Kapitel, die ich wieder gestrichen habe, weil sie dieser Figur zu viel Ballast angehängt hätten. So wie man im eigenen Leben Dinge verdrängt, habe ich das beim Erzählen auch gemacht. Ich mag es ja auch nicht, wenn ich Bücher lese, in denen alles auserzählt wird und keine Geheimnisse mehr bleiben. Man soll bei der Lektüre selbst die Lücken mit eigenen Vorstellungen füllen dürfen, das macht die Faszination des Lesens ja aus.

STANDARD: Ist es eine schwierige Entscheidung, ob z. B. ein Traum, in dem diese Frau ihren Ex in die Luft gehen lässt, stehenbleiben kann?

Knecht: Wie gesagt: Es ist viel in diesem Buch erfunden. (lacht) Ich wollte nach meinem letzten, thematisch eher schwierigen Buch eines schreiben, das auch viele komische Momente hat und aus dem ich gern vorlese. Und so eine Stelle passte zu meiner Erzählerin, und ich sehe ja, wie Sie darüber lachen, insofern.

STANDARD: Was bedeutet das Wort "alleinerziehend" für Sie?

Knecht: Alleinerziehend zu sein, das ist eine Erfahrung, die unteilbar ist. Es ist wie das Kinderkriegen, man kann es sich vorher nicht vorstellen. Alleinerziehende Mütter und Väter finden es oft besonders erleichternd, wenn die Kinder ausziehen, weil sie sich meistens doppelt kümmern mussten. Das hinterlässt dann nicht nur Leerstellen, sondern auch ein Freiheitsgefühl, weil man für so vieles zuständig war: Wohlergehen, Schule, trösten, fördern, kümmern, versorgen. Das ist eine große Aufgabe, die kleiner wird, wenn man sie teilen kann. Allein verantwortlich zu sein bringt auch große Existenzängste mit sich, vor allem als Freiberuflerin. Ich bin wirtschaftlich vergleichsweise privilegiert, aber ich finde es für unsere Gesellschaft beschämend, wie viele alleinerziehende Mütter in die Armut abrutschen, sie sind die die armutsgefährdetste Gruppe. Sich immer fragen müssen: Geht sich alles aus, Essen, Miete, Kleider, Heizung? Das erleben viel zu viele Frauen in Österreich, Tag für Tag. Und warum beschweren oder organisieren sie sich nicht? Weil sie dafür einfach keine Minute Zeit haben.

Buch
Doris Knecht,"Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe". € 24,– / 240 Seiten. Verlag Hanser Berlin, 2023. Das Buch erscheint am 24. Juli.
Hanser Berlin

STANDARD: Immer wieder taucht im Roman eine Person aus Jugendtagen auf. Wofür steht diese Hansi?

Knecht: Das ist eigentlich einfach. Ein Geheimnis macht eine Geschichte spannend, und Hansi steht für dieses Geheimnis. In einem Buch übers Drehbuchschreiben habe ich einmal über Helferfiguren gelesen, Hansi ist so eine Figur, immer da, wenn man sie braucht. Sie war auch beim Schreiben da, wenn ich sie brauchte. Ich mag die Figur, sie spannt einen Bogen in dieses Buch.

STANDARD: Die Autorin Marlene Streeruwitz hat mir einmal bei einem Treffen gesagt: "Wer es sich psychisch und ökonomisch leisten kann, allein zu sein, der sollte das machen. Es geht einfach mehr weiter." Einverstanden?

Knecht: Ja, absolut. Großartig, danke, Marlene Streeruwitz. Ich möchte nicht apodiktisch sein, aber hier festhalten, wie irrsinnig es ist, wie oft Frauen, die lieber allein leben, immer noch als unvollständig betrachtet werden. Und viele Frauen haben ja irgendwann einfach alles erledigt, wofür sie Männer brauchten.

STANDARD: An einer Stelle im Buch steht geschrieben: "Vielleicht gibt es so etwas wie Horizont für Frauen wie mich einfach nicht." Wie ist das gemeint?

Knecht: Jemand, der das Buch gelesen hat, hat mir etwas Schönes gesagt, nämlich dass es einen versöhnt mit den Dingen, die schiefgegangen sind. Die Frau in meinem Buch hat sich für keinen einfachen Weg entschieden, aber sie ist auch keine einfache Frau, im Gegenteil: Sie ist ruppig, schwierig und eigenbrötlerisch. Vielleicht wünscht sie sich etwas, das es für sie gar nicht geben kann, weil sie es auch gar nicht leben könnte. Eine ökonomische Sicherheit hat für sie lange keine Rolle gespielt. Aber mit dem Älterwerden merkt sie, dass es schwieriger wird, wenn man diese Sicherheit nicht hat.

STANDARD: In diesem Buch hat jemand seinen Besitz, seine Erinnerungen und seine Familienverhältnisse sortiert. Was kommt jetzt?

Knecht: Ich weiß es nicht. Ich werde es wie Philip Roth machen, dessen Figuren mit ihm auch immer älter geworden sind. Vielleicht liegt die Antwort auf diese Frage in meinem nächsten Buch.

Kurzer Epilog zum Interview: Auf der Rückfahrt nach Wien fällt mir wieder ein, was beim Rausfahren zu Doris Knecht passiert ist. Da bin ich im Auto von einer Frau in Eggenburg aufgehalten worden, und noch bevor ich etwas sagen konnte, saß sie schon auf dem Beifahrersitz, und ich musste sie nach Horn fahren, obwohl das gar nicht meine direkte Strecke war. Ich kam zu spät zum Interview. "Sie hat dich gekidnappt!", hat die Knecht begeistert gerufen. Das hat ihr gefallen, so eine Frau, die dafür sorgt, dass sie bekommt, was sie will.

Dann hat mir Doris Knecht unter dem Schatten eines prachtvollen Baums einen Mangoldkuchen serviert, den sie extra gebacken hat. Der war übrigens köstlich. Das Rezept hat sie mir, als ich noch auf der Rückfahrt war, gleich noch geschickt.

Tage nach dem Interview war ich dann auf einem Literaturfestival in Vorarlberg, und auf dem Podium saßen zwei schon ältere, sehr bekannte Schriftsteller, es ging um ihr Leben und Schreiben und die ewige Frage nach der schriftstellerischen Inspiration. "Wer beim Schreiben kein mieser Verräter ist", sagte der eine und wusste nicht mehr, wen er damit zitiert, "ist ein mieser Schriftsteller!" Das Publikum hat gelacht, und ich musste schmunzeln und gleich auch an Doris Knecht und ihr neues Buch denken. Ob ihr der Spruch gefällt? Ich bin mir fast sicher, aber ich werde sie fragen. (Interview: Mia Eidlhuber, 22.7.2023)