Marie NDiaye
Marie NDiaye schafft poetisch-fantastische Welten, mit denen sie Leser und Leserinnen beglückt und verstört.
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Seit die französische Starautorin Marie NDiaye 2009 für ihren Roman Drei starke Frauen überraschend den renommierten Prix Goncourt erhalten hat, ist sie im internationalen literarischen Leben omnipräsent. Nun erhält sie den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur 2023, der im Rahmen eines Festakts während der Salzburger Festspiele verliehen wird, und man kann die Jury zu dieser Wahl und ihrer Begründung nur beglückwünschen: Marie NDiaye ist die "unübertroffene Meisterin der literarischen Verstörung", ihre Bücher sind "komplex komponierte, in glasklarer Sprache geführte Gegenwartsanalysen, die aktuelle Fragen zu Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe und sozialer Klasse aufgreifen und bis in die feinsten Verästelungen des Zwischenmenschlichen hinein verfolgen".

Sie selbst ist Europäerin im besten Sinne: Als Tochter einer Französin und eines Senegalesen in Frankreich nahe Orléans aufgewachsen, hat sie seither mit ihrer Familie in vielen europäischen Ländern gelebt, Spanien, Italien, den Niederlanden, viele Jahre auch in Berlin, nicht zuletzt, weil da das französische Gymnasium umsonst ist, wie sie erzählt. Inzwischen lebt sie wieder in Paris, im Norden, unspektakulär, die schicken Viertel meidet sie, sie findet sie langweilig.

Literarisches Wunderkind

Sie ist eine Sprachmagierin, eine Meisterin des Suspense, an Chabrol und Hitchcock geschult, aber natürlich vor allem an Dostojewski, Kafka, Proust und Henry James. Sie war eine Art Wunderkind, das im Kinderzimmer dutzende Romane im Stil der Madame de Sévigné und der Madame de Lafayette schreibt, bis sie sich mit 17 Jahren in einen Vorortzug setzt, um ihren ersten Roman bei Pariser Verlagen abzugeben. Der Verleger Samuel Becketts von den Éditions de Minuit holt sie am nächsten Tag von der Schule ab. Ihr erster Roman Quant au riche avenir erscheint. Das war 1985.

Seither hat NDiaye mehr als ein Dutzend Romane erfolgreich veröffentlicht, zuverlässig ins Deutsche übersetzt von Claudia Kaltscheuer. Sie selbst weiß gar nicht mehr, wie viele Romane in ihrer täglichen zweistündigen Schreibklausur entstanden sind, vermutlich um die 35. Mit Rosie Carpe findet sie 2001 ihren eigenen "zwischen Klarheit und Geheimnis wetterleuchtenden Ton", erzielt den internationalen Durchbruch und erhält den ersten großen Preis, den Prix Femina. In ihrem Selbstporträt in Grün verwischen sich die Konturen des eigenen Selbst und die der Umwelt. Was ist real, was nur eingebildet, was ist wirklich geschehen, was erinnerte Einbildung oder nachhängendes Traumgebilde oder einfach nur einem Roman entnommen? Diese Fragen bilden die Grundmuster ihrer poetisch-fantastischen Welt. Dies gilt auch für Mein Herz in der Enge von 2007, wo am Ende nichts so ist, wie es am Anfang schien, auch die Auflösung beklemmend und erschreckend bleibt.

Sie ist inzwischen auch eine ausgesprochen erfolgreiche Theaterautorin, was für sie eine Art Erholung und Fingerübung zwischen zwei Romanen ist: Die Comédie Française hat ihr Stück Papa doit manger als einziges Stück einer lebenden Autorin in ihr Repertoire aufgenommen, in Straßburg ist sie Vertragsautorin, letztes Jahr wurden in Frankreich gleich drei ihrer Stücke auf den großen Bühnen gespielt. Daneben schreibt sie Drehbücher.

Unterwegs in Familienhöllen

Marie NDiaye, die selbst glücklich verheiratet ist, wie sie sagt, ist Spezialistin für Lebenslügen, Abgründe, Familienhöllen, die sich nicht auflösen lassen, denen man nicht entrinnen kann, weder durch Psychologie noch durch Psychoanalyse oder Soziologie, Verdrängtes und Unerledigtes kehrt hier immer wieder, aber auch die Erinnerungen sind trügerisch, der Leser, die Leserin findet keinen Halt, keine Orientierung, erwacht mitunter wie aus Kafkas dunklen Träumen. Marie NDiaye führt die Feder wie einen Zauberstab, der die dunkelsten Ecken der Seele ausleuchtet, die obskursten Gefühle erweckt, aber unsere Erwartungen immer ins Leere laufen lässt.

Ihre Spezialität ist dabei die französische Provinz mit ihren historischen Verstrickungen und emotionalen Verwicklungen. Aus den reichverzierten, prächtigen Fassaden der wohlhabenden Weinhändler in Bordeaux schreit die Vergangenheit der Sklavenhändler, die die Stadt reich gemacht haben. In Drei starke Frauen waren zum ersten Mal die Flüchtlinge des 21. Jahrhunderts in der französischen Literatur aufgetaucht. Wir hatten miterlebt, wie die junge Witwe Khady Demba, von ihrer Schwiegerfamilie verstoßen und zur Prostitution gezwungen, nach einer albtraumartigen Flucht schließlich im Grenzzaun der spanischen Enklave Melilla einen grausamen Tod findet. In ihrem letzten Roman Die Rache ist mein werden die modernen Sklaven in den "maisons-tombeaux", den Häusern, die Gräber sind inmitten erstarrter Parks, als Haushaltshilfen ausgebeutet.

In diesem Roman, der zugleich Thriller und Gesellschaftsroman ist, haben wir es wiederum mit drei starken Frauen zu tun, deren Schicksale miteinander verknüpft sind: eine erfolglose Anwältin aus kleinen Verhältnissen, eine illegale maurizische Hausangestellte und eine moderne Medea, die aus Hass auf ihren Ehemann ihre drei kleinen Kinder getötet hat. Hinter den Fassaden der Wohlanständigkeit bröckelt es, wir schauen in mehrere Herzen der Finsternis.

Eine glasklare, an der französischen Klassik orientierte Sprache verbindet sich in ihren Romanen mit magischen Elementen, eine labyrinthische Erzählstruktur zieht den Leser in verstörende Bewusstseinsschichten, ihre von Mythen und Märchen gesättigte Literatur bewahrt stets ein Geheimnis, changiert zwischen schärfstem Realismus und suggestiven Bilderwelten. Die Konturen ihrer Figuren verschwimmen, es gibt keine klaren Motive, die Handlungsstränge lösen sich niemals eindeutig auf, es bleibt ein "clair-obscur", hell ausgeleuchtete Finsternis sozusagen, es gibt keinen zuverlässigen Erzähler.

Märchenmahlzeiten

Das Klischee will ihren magischen Realismus ihren afrikanischen Genen zuordnen, worauf sie kühl kontert, sie sei mit den Märchen der Brüder Grimm und Perraults aufgewachsen, das habe ihren Bedarf an Fantastischem ausreichend gedeckt, sie habe kulturell keine afrikanischen Wurzeln. Das Land ihres senegalesischen Vaters, der die Familie früh verlassen hat, hat sie selbst erst mit dem Prix Goncourt in der Hand betreten. Afrika als Wunde gibt es hingegen schon, Flucht und Vertreibung werden gespiegelt, die Spätfolgen des Kolonialismus sind präsent.

Neben dem Schreiben ist das Kochen eine weitere Passion der Autorin, wie die liebevoll zubereiteten Köstlichkeiten zeigen, mit denen Sharon, die Hausangestellte aus Mauritius, ihre Herrin verwöhnt, um von ihren Betrügereien abzulenken, sowie das Porträt einer ganz ungewöhnlichen Köchin, das Marie NDiaye in ihrem Text Die Chefin. Roman einer Köchin zeichnet. Diese bescheidene, rätselhafte Frau, deren einzige Passion das Kochen erlesener Gerichte ist, bereitet voller Akribie und Enthusiasmus Feen- oder Märchenmahlzeiten zu: die berühmte Lammkeule im grünen Mantel, den Pfirsichkuchen aus dem Département Landes, Kohlblätter mit Andouillette gefüllt, die Entenpastete mit korsischen Klementinen etc. Sie führt ein erfolgreiches Restaurant, kompensiert die Kälte und Einsamkeit ihres Lebens durch kunstvolle Küchenkreationen, bis sie durch den Hass ihrer eigenen Tochter alles verliert.

Wobei wir auch hier wieder bei den bekannten toxischen Familienverhältnissen wären: Die Frauen eher unscheinbar, bedürfnislos und eigenbrötlerisch, meist im Gefängnis ihres Frauenlebens feststeckend, die Männer schwach und/oder böse, oft gewalttätig, immer aber abwesend und gleichgültig, erleben wir verstörende Psychogramme zerrütteter Ehen. Die Familie ist Marie NDiayes liebster Brennspiegel. Nicht nur zwischen Ehepaaren, auch zwischen Eltern und Kindern wünscht man sich in "schmerzlicher Liebe" gegenseitig den Tod, weil man sich die Wahrheit nicht zumutet.

Folter und Vergnügen

Sie selbst sagt dazu im Interview, sie liebe es, Familien zu beobachten, die vor allem früher voller Geheimnisse und Tabus waren. Über Abtreibungen, Scheidungen, Selbstmorde, außereheliche Kinder etc. durfte nicht geredet werden, da herrschte tiefes Schweigen, wurde alles vertuscht. Dafür gab es umso mehr Gerüchte. Das immerhin ist heute anders, heute muss man sich nicht mehr verstecken. Aber über intakte Familien zu schreiben findet sie langweilig. Familiengeschichten sind ein Kondensat der Welt, das Tragisches und Groteskes vereint. Die inneren Widersprüche ihrer Figuren setzen ihre Romane selbst unter Hochspannung, wenn aus der Vorstadtehefrau und Bilderbuchmutter eine moderne Medea wird, gewinnen die unscheinbaren Frauenfiguren die Fallhöhe griechischer Tragödien.

Marie NDiayes Romane wühlen auf, sie sind immer ein raffiniertes Spiel mit unseren Erwartungen, der Boden schwankt, es gibt weder Identifikation noch Auflösung, die Lektüre ist Folter und Vergnügen zugleich und eröffnet so noch nicht gekannte Einblicke in die Wildgebiete der Seele, immer geschrieben wie mit dem Skalpell und mit höchster Präzision und Eleganz. (Barbara Machui, 28.7.2023)