Auf den ersten Blick wirkt die Mappe wenig spektakulär. Die leicht vergilbte weiße Rückseite ziert ein schwarzer Rand und eine schlichte Beschriftung: "Kärnten". Auf anderen, ebenfalls etwa 40 mal 60 Zentimeter großen Mappen sind weitere Bundesländer vermerkt.
Gebhard Banko und Peter Strauss sind dennoch aufgeregt. Sie glauben zu wissen, welche wertvollen Dokumente sie gleich in diesen Mappen finden könnten. Tatsächlich: Der Blick auf die darin befindlichen Blätter bestätigt ihre Vermutung. Die darauf zu sehenden Ausschnitte zeigen nicht nur historisches Kartenmaterial der Dritten Landesaufnahme, die ab 1869 unter Kaiser Franz Joseph I. entstand. Vielmehr sind auch diverse kleinere Flächen in Rot, Grün und Gelb eingefärbt.
Der in den kleinen Mostviertler Ort Petzenkirchen angereiste Banko, Fernerkundungsspezialist beim Umweltbundesamt in Wien, ist sich sicher: Bei den im Keller des Instituts für Kulturtechnik und Bodenwasserhaushalt gefundenen Dokumenten muss es sich um die verschollen geglaubten Moorkarten aus dem Jahr 1911 handeln. Die roten Flächen sind Hochmoore, die grünen grundwasserabhängige Niedermoore, und Gelb steht für Übergangsmoore. Auch Institutsleiter Strauss kommt zum selben Schluss.
Der spektakuläre Kartenfund
Doch was ist an den Karten so besonders? "Das ist in etwa der Heilige Gral der österreichischen Moorforschung, der hier entdeckt wurde", freut sich der Ökologe Axel Schmidt. Er hatte die Suche nach eigenen Recherchen angestoßen und fand damit beim Umweltbundesamt Gehör. "Der Kataster ist die detaillierteste historische Bestandsaufnahme, wo es in Österreich einst Moore gab, welche Größe und Torftiefe sie hatten und ob sie bereits kultiviert waren", erklärt Schmidt.
Der Ökologe, der etwa im Waldviertel mit der Renaturierung von Mooren betraut ist, hatte die Spezialkarten über Jahre hinweg gesucht, nachdem er in einem Antiquariat über das 1911 publizierte Büchlein Nachweis der Moore gestolpert war. In diesem waren die Moore der Monarchie mit Ausnahme einiger Regionen wie Vorarlberg und Salzburg zwar ebenfalls aufgelistet, für die genaue geografische Verortung wurde aber stets auf die unauffindbaren Spezialblätter verwiesen.
Da viele Orts- und Moorbezeichnungen im Laufe der Zeit verlorengingen, konnten viele der damals angeführten Gebiete ohne die Karten folglich nicht mehr zugeordnet werden. Mit dem Fund ist das Problem nun gelöst.
Zwar zeichnen auch die Karten des Moorkatasters von 1911 historisch kein vollständiges Bild, weil etwa die hochalpinen Moore nicht erfasst wurden. In erster Linie wurden Flächen aufgenommen, die sich für eine wirtschaftliche Nutzung gut eigneten und etwa mit der Bahn gut erreichbar waren. Sie liefern dennoch wertvolle Hinweise auf heimische Moor- und Feuchtgebiete, die längst unter Äckern, Wäldern und Siedlungen verschwunden sind. Denn wie die Karten nahelegen, schlummert unter der Oberfläche vielerorts immer noch ein mehrere Meter dicker Torfboden.
Im Zuge des geplanten Renaturierungsgesetzes der EU und weiterer Maßnahmen des Klimaschutzministeriums könnte das noch besonders relevant werden. Denn Moore zählen trotz ihrer vergleichsweise geringen Fläche von drei Prozent an der weltweiten Landmasse zu den größten Kohlenstoffspeichern der Erde. Schätzungen gehen davon aus, dass sie 30 Prozent des weltweiten Volumens, also doppelt so viel wie die globalen Wälder speichern. Aufgrund der vielen seltenen Tier- und Pflanzenarten sind sie zudem ein Hotspot der Biodiversität.
Moore als enormer Klimafaktor
Durch die Entwässerung und Versetzung des Torfbodens mit Sauerstoff wird allerdings die Mineralisation der organischen Böden in Gang gesetzt, der gespeicherte Kohlenstoff entweicht als klimaschädliches CO2 in die Luft, und das nicht zu knapp. In Deutschland geht man davon aus, dass die trockengelegten Moore für 7,5 Prozent der nationalen Treibhausgas-Emissionen verantwortlich sind. Für Österreich sind die Schätzungen mit ein bis zwei Prozent ein wenig geringer.
Die Berechnung ist aber nicht zuletzt deshalb schwierig, weil man nicht genau weiß, wo im Untergrund noch wie viel Torfboden vorhanden ist. Klar ist: Die Ausgasung geht auch weiter, wenn sich über der Torfschicht ein bewirtschafteter Boden befindet, sprich: an der Oberfläche keine Hinweise mehr auf das ehemalige Moor zu sehen sind.
Mit der EU-weit diskutierten Wiedervernässung solcher Flächen könnte der CO2-Ausstoß drastisch reduziert und der Wasserhaushalt im Boden stabilisiert werden, was angesichts verstärkt auftretender Dürre und Hochwasserereignisse ein nicht minder positiver Nebeneffekt solcher Maßnahmen wäre.
Enormer Rückgang dokumentiert
Nicht zuletzt deshalb besitzen die Karten, die vom Umweltbundesamt digitalisiert und online aufbereitet wurden, einen großen Stellenwert. Wie eine erste Auswertung für den STANDARD und der Abgleich mit dem Anfang der 1990er-Jahre erstellten Moorschutzkatalog zeigt, sind 70 bis 80 Prozent der 1911 verzeichneten Moore verschwunden. Kartierungen durch den Naturschutzbund Niederösterreich bestätigen diesen Befund.
Wie die roten Umrandungen auf dem Satellitenbild zeigen, sind etwa in Salzburg südwestlich des Wallersees, aber auch rund um den Mattsee und Obertrumer See viele Gebiete verlorengegangen. Noch bestehende sind blau eingefärbt. Ein Blick auf die historischen Karten lässt zudem erahnen, wie groß die Hochmoore südlich und nördlich der Stadt Salzburg waren. In Vorarlberg waren große Teile des Rheintals von Lauterach bis Koblach als Niedermoore ausgewiesen.
Das Ausmaß überrascht selbst Moorkenner wie Schmidt: "Natürlich wussten wir, dass bekannte Gebiete wie das Rottalmoos im Waldviertel früher viel größer waren. Dass das Moor laut damaliger Karte mit 200 Hektar die 20-fache Größe von heute umfasste, ist heute jedoch schwer vorstellbar." Das in der Gegend ebenfalls bekannte Haslauer Moor, das mit EU-Geldern und Fördermitteln des Landes Niederösterreich renaturiert wird, war damals 120 statt heute 36 Hektar groß.
Zukunft der Moore als Politikum
Doch wie geht es mit den gewonnenen Informationen nun weiter? Laut GIS-Datenspezialist Banko vom Umweltbundesamt werden diese für die Neuauflage des Moorschutzkatalogs berücksichtigt, der bis 2024 mit Fördermitteln aus dem Biodiversitätsfonds des Klimaschutzministeriums aktualisiert wird. Sie fließen auch in eine Erhebung und Emissionsberechnung der organischen Böden in Österreich sowie die "Moorstrategie 2030+" des Landwirtschaftsministeriums ein.
Die Zukunft der Moore wird auch vom EU-Renaturierungsgesetz abhängen. Denn die Vorgabe von Kommission und Rat, dass 30 Prozent der bestehenden Moore bis 2030 wiedervernässt werden müssen, will das EU-Parlament streichen. "Wenn das durchgeht, ist das Gesetz zahnlos und eigentlich zum Vergessen", kritisiert der österreichische Moorschutzpionier und Ersteller des Moorschutzkatalogs, Gert Michael Steiner. Dabei würden gerade Landwirte im alpinen Raum von dem Gesetz und etwaigen Subventionierungen für eine standortgemäße Nutzung profitieren, wenn sie statt aufwendiger Bewirtschaftung für den klimarelevanten Schutz der Landschaft belohnt würden, sagt Steiner.
"In einer Zeit, in der es immer trockener wird, müssen wir alles tun, um das Wasser länger in der Landschaft zu behalten", sagt auch WWF-Gewässerexperte Gerhard Egger. Moore und Feuchtwiesen würden sich wie deregulierte Flüsse dafür besonders eignen, da sie viel Wasser aufnehmen und nach Starkregen auch langsamer wieder abgeben können.
Renaturierungsgesetz der EU
Auf EU-Ebene sei es wichtig, dass der strengere Vorschlag der Kommission auch vom Parlament mitgetragen werde. Aber auch regionale Überlegungen wie der Ausbau des Kraftwerks Kaunertal, das eines der bedeutendsten hochalpinen Moore zerstören würde, seien angesichts der Klimakrise unverständlich, kritisiert Egger. Die historischen Karten bezeichnet er als "Schatz", der wie eine Zeitkapsel Veränderungen greifbar mache.
Das sieht auch Moorexperte Steiner so, der sich über den Fund der Karten besonders freut. Denn wie die STANDARD-Recherchen ergaben, hatte vor vielen Jahren auch er die begehrten Blätter in Petzenkirchen schon einmal in Händen gehalten. Neben Notizen fertigte er sogar einige Kopien an. Aufgrund der damals fehlenden technischen Möglichkeiten waren diese aber von bescheidener Qualität und für eine moderne digitale Aufbereitung de facto unbrauchbar.
Die Ironie der Geschichte
Auch Steiner soll wiederholt versucht haben, Zugang zu den Dokumenten zu bekommen. Nach der Pensionierung und dem Ableben des damaligen Institutsleiters, der von den Karten wusste, verlor sich aber die Spur. Dass die Blätter Jahrzehnte später nach aufwendiger Suche nun doch wieder in Petzenkirchen gefunden wurden, ist die Ironie der Geschichte: Sie waren immer dort gewesen. (Martin Stepanek, 26.7.2023)