Depeche Mode
Dave Gahan sieht in Klagenfurt nach dem Rechten. Seine neue Bühnenrolle als Mischung aus Jedermann und Vampir steht ihm gut.
APA/BARBARA GINDL

Nach dem noch rechtzeitig vor dem Konzert über die Stadt niedergehenden Wolkenbruch ist es lange Zeit fast widerlich strahlend hell. Symbolisch gemeint: Pünktlich um dreiviertel Neun hebt sich trotzdem zischend und knarzend der Sargdeckel. Endlich ist die für das heutige düstere, allerdings kathartische Event äußerst ungelegen kommende Sonne hinter dem Klagenfurter Wörthersee Stadion untergegangen. 24.000 Leute sind gekommen, um das zu sehen.

Die Fledermäuse, die sonst unter dem Dach wohnen, haben sich im Tiefflug über das Publikum vertschüsst. Es böllert recht ordentlich aus den Boxen. Selbst im nachtaktiven Tierreich finden nicht alle den harten, auf jugendliche Zeitgenossenschaft setzenden Techno zwingend, der vor dem Auftritt von Depeche Mode läuft. Ein altes Hausmittel besagt schließlich, dass man die auf Schallwellen äußerst sensibel reagierenden Fledermäuse mit lauter Musik vertreiben könne. Dabei kommt gleich ein Seelenverwandter auf die Bühne!

Dave Gahan erscheint in glitzernder Abendrobe und mit zurückgekämmter Schmalzkopffrisur als Mischung aus einem Jedermann in einer Musical-Inszenierung vom bewährten Freund des Hauses, Anton Corbijn, und einem bleichen, charmant beißlustigen Fürst der Vampire wie ihn zuletzt Nicolas Cage in Renfield gegeben hat.

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Gewöhnlich tanzt Dave Gahan ja, als ob bei ihm ein Marionettenspieler aus der Augsburger Puppenkiste die Fäden ziehen würde. Beim erdschweren Eröffnungssong My Cosmos Is Mine wird aber nicht nur mit den knarzenden Synthiesounds vom musikalischen Hauptspielleiter Martin L. Gore klar, dass sich der Sargdeckel hebt. Bassist und Keyboarder Peter Gordeno und Christian Eigner, der seit 26 Jahren für Depeche Mode tätige österreichische Schlagzeuger, sorgen mit wuchtigen Tiefenbohrungen auch dafür, dass Depeche Mode live heute erdschwerer als je zuvor klingen. Da bleibt auch Dave Gahan auf dem Boden und hält sich am Mikroständer fest.

Mehr Kraftwerk als knüppeldicker Rock

Das tut den alten Hits der Band wie Walking In My Shoes oder It’s No Good nicht immer gut. Depeche Mode haben zwar einst spätestens für Personal Jesus (und den konservativen amerikanischen Markt des Mittleren Westens) die elektrische Gitarre und die brutalen Blues-Riffs entdeckt. Im Wesentlichen aber sind Depeche Mode als Miterfinder des Synthiepop seit 1980 immer eine Band geblieben, die mehr auf Kraftwerk als auf knüppeldicken Rock vertraut.

Vom fröhlichen Frühwerk Depeche Modes wie etwa dem unwiderstehlichen Gassenhauer Just Can’t Get Enough ist nicht viel übrig geblieben. Als heute veritablen Fremdkörper konfrontiert ihn die Band im Zugabenblock mit besagtem Personal Jesus und dem düsteren Drogensong und Dauerfavoriten Never Let Me Down Again sowie dem das tröstliche Dunkel der Nacht feiernden Waiting for The Night.

Ylson Borges

"Bedenke, dass du sterben wirst" zieht sich als Motto ohnehin durch das Gesamtwerk der Band. Memento Mori nennt sich das aktuelle Album, Memento Mori nennt sich die laufende Welttournee. Der Song World In My Eyes ist dem im Vorjahr viel zu früh verstorbenen Bandmitglied Andrew Fletcher gewidmet. Neben dem Tod und der Last und der Schwere des irdischen Lebens, fließen im bibelfesten Jammertal von Hauptkomponist Martin L. Gore aber auch jede Menge Tränen.

Depeche Mode
Die Hose sitzt, jetzt kommt bei Dave Gahan der Flug der Fledermaus.
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Es wird nachts viel geweint, die Engel fliegen vorbei oder sterben so wie im neuen, sehr nach Kraftwerk, New Order und retrospektiver New Wave klingenden Wagging Tongue. Schuld und Sühne, der Schrei nach Erbarmen, der Schrei nach Liebe, Licht im Dunkel und Dunkel ins Licht, schließlich gar auch die Apokalypse, die Götterdämmerung, Ragnarök, What ever works tauchen seit vier Jahrzehnten in den Songs auf. Depeche Mode, und mit ihnen die Fans, sind Kummer und Schmerz gewohnt. Wie heißt es im auch in Klagenfurt gesungenen A Pain That I’m Used To: "All this running around, well it's getting me down / Just give me a pain that I'm used to." Der Tod steht ihnen gut.

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Martin L. Gore hat gerade eine gewisse Fashion-Krise.
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Vom Programm her weichen die Gigs nur minimal voneinander ab. Wer auf meist schwarz-weiß oder blutrot und tot gehaltene, individuell auf die Songs abgestimmte Videos im Bühnenhintergrund setzt, tut sich mit Improvisation naturgemäß schwer. Und ein Computer, aus dem ein Gutteil der heutzutage gar nicht einmal noch so neumodischen Musik kommt, kann halt auch nicht spontan aus seiner Haut fahren.

Leiden macht gute Stimmung

Nach anfänglichen Sound-Wettkämpfen zwischen Schlagzeug, Bass und Dave Gahan gewinnt der Sänger schließlich nach dem ersten Drittel die Oberhand. Er ist bestens bei Stimme, dreht dem Drehschwindel gegenüber resistente Pirouetten. Und Dave Gahan zeigt stolz seine wirklich sehr hübschen, spitzen weißen Schuhe. Vorsicht, wenn Dracula auf dem Laufsteg ins Publikum geht, will er keine Getränke spendieren, sondern Blut sehen!

Neben Everything Counts oder A Question Of Lust kann das neue, wunderschön zwischen der guten alten Italo-Disco-Ballade I Like Chopin von Gazebo und einer Gothic-Melancholie der frühen 1980er-Jahre pendelnde Ghosts Again auf jeden Fall bestehen. Vor dem Zugabeblock macht allerdings Enjoy The Silence vom Album Violator von 1990 klar, dass die wirklich großen Hits der Band schon einige Jahre zurückliegen. Darum fällt den Besuchern des Wörthersee Stadions bei den alten Hadern auch das Mitsingen leichter. Gott, was haben wir mit Depeche Mode wieder gelitten! So gut ist es uns schon lange nicht mehr gegangen. (Christian Schachinger, 22.7.2023)