Jedermann Salzburg
Der Tod greift nach Jedermann: Valerie Pachner gibt neben der Buhlschaft auch den Tod, rechts Michael Maertens.
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Die beste Pointe des Abends war eine unfreiwillige: Gerade hatte sich die Festgesellschaft auf der Bühne noch zu einer kleinen Völlerei auf Teppichen niedergelassen und sich gegenseitig zugeprostet, als einige Aktivisten nach vorne stürmten: "Wir alle sind die letzte Generation" skandierten sie und ahnten dabei wohl gar nicht, wie wunderbar sie damit in diese Neuinszenierung des "Jedermann" passten. Nach zwei Jahren, in denen am Salzburger Domplatz die altbackenen Geschlechterzuschreibungen in Hugo von Hofmannsthals Stück hinterfragt wurden, ist das "Spiel vom Sterben des reichen Mannes" nunmehr in einer apokalyptischen Endzeit angekommen.

Wie ein Palast thront die Villa dieses Jedermann über einer verwaisten Erdlandschaft, aus deren Höhlen Bettler kriechen. Während der Hausherr in einen samtenen Alptraum aus Pink, Violett und Flieder gekleidet ist, trägt das darbende Grüppchen Plastikfolien um die Hüften. Oben und unten, reich und arm, Ausbeuter und Ausgebeutete, diese Prinzipien sind in dieser Welt klar geregelt. Gleich zu Anfang des Stücks wird die Außenwand von Jedermanns Marmorpalast mit oranger Farbe besprüht, da sind die Protestierenden allerdings noch Teil der Inszenierung. Einige Szenen später, bevor der Tod ins Leben dieses Großkapitalisten tritt, übernehmen dann allerdings die echten Klimaaktivisten, sprich das richtige Leben.

Jedermann salzburg
Kampf um Ressourcen: Bettler in Nylon-Umhängen
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"Jedermann muss sich fragen: Was wirst du tun?" werden sie später auf Twitter posten, und genau darum geht es ja auch in Hofmannsthals allegorischem Spiel: Was tun, wenn der Tod ins Leben tritt? Für eine durch seinen Palast tänzelnde Spielernatur, wie es Michael Maertens in dieser Neuinszenierung des Jedermann ist, ist das erst einmal ein komplett unvorstellbarer Gedanke. Geschmeidig parliert er mit seinem Gesellen (Helmfried von Lüttichau), schmeichelt der agilen Mutter (Nicole Heesters) und umgarnt seine Buhle (Valerie Pachner). Ein Zyniker, aber einer, der im Schafspelz daherkommt. "Mein Geld weiß nit von dir noch mir / und kennt kein Ansehen der Person", belehrt er den Schuldknecht (Mirco Kreibich) und ahnt noch nicht, wie sehr das bald auch auf ihn zutreffen wird.

Es ist bereits das dritte Mal, dass sich Regisseur Michael Sturminger an Salzburgs Paradestück versucht. Sprang er im ersten Jahr noch kurzfristig ein, entwickelte er beim zweiten Durchgang gemeinsam mit seinen Protagonisten Lars Eidinger und Verena Altenberger eine Lesart, in der Geschlechterkonzepte abgeklopft wurden. Diese Genderperspektive ist im heurigen Jahr Geschichte, oder besser gesagt, sie geht nahtlos im Stück auf. Zentrale Rollen sind mit Frauen besetzt, von Gott über die Werke und den Glauben bis hin zu Tod und Teufel, ohne dass dies sonderlich betont würde. Diesmal interessieren Sturminger die Mechanismen einer kapitalistischen Weltordnung, und wie der einzelne, sprich Jedermann, sich angesichts eines nahenden Endes verhält. Dazu hat er nicht nur (bis auf Mirco Kreibich) die gesamte Besetzung ausgetauscht, auch ansonsten hat er einiges neu ausprobiert.

Salzburg Buhlschaft
Die Buhlschaft und ihr Jedermann: Valerie Pachner und Michael Maertens
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Lange, viel zu lange lag über dem Salzburger "Jedermann" ja der lange Schatten von Max Reinhardts Ursprungsinszenierung aus dem Jahre 1920: eine gut zusammengezimmerte Bretterbühne und ein getragener Ton, der nicht selten von der unfreiwilligen Komik der Knittelverse konterkariert wurde. Bereits im Anfangsbild verdeutlicht Sturminger, dass er sich diesmal dankenswerterweise noch einen Schritt weiter davon wegbewegt: Die Bühne ist zur Gänze in ein schwarzes Tuch gehüllt (Bühne und Kostüm: Renate Martin und Andreas Donhauser), einsam thront darüber Anja Plaschg als Spielansagerin. Die weißgewandete Wiener Sängerin (Soap&Skin) trägt Glatze und nackten Bauch und bringt auch ansonsten einen ganz neuen Tonfall in die Inszenierung (wegen Schlechtwetterwarnung fand diese nicht am Domplatz sondern im Festspielhaus statt).

Salzburg Jedermann
Glaube und Teufel: Anja Plaschg und Sarah Viktoria Frick.
IMAGO/Manfred Siebinger

Dieser paart sich, vor allem wenn Plaschg später den Glauben gibt, auf wunderbarste mit der Musik von Wolfgang Mitterer. Halb gesungen, halb gesprochen, halb melodisch, halb atonal, ist sie ein Wesen wie aus einer Zwischenwelt, entrückt und doch ganz da. Plaschg ist das ätherische Pendant zu Valerie Pachner, die neben der Buhlschaft (ein süßes, etwas blasses Stirnfransenmädel) den Tod als eine Art Catwoman in Slow Motion spielt. Überhaupt trumpfen die vielen weiblichen Besetzungen auf, an vorderster Stelle Sarah Viktoria Frick, die zum einen Gott als Rastafari, zum anderen den Teufel als Knallchargen mit behaartem Popo und Zumpferl gibt. Bei den Männern kann da nur Mirco Kreibich mithalten, der als Mammon diesmal eine umwerfend akrobatische Ballettnummer hinlegt – und natürlich Michael Maertens.

Sein Jedermann steht über beinahe zwei Stunden unverrückbar im Zentrum dieser Neuinszenierung, sehr heutig legt Maertens seine Figur an, vor allem zu Anfang mit der ihm eigenen feinen Ironie und tänzelnden Unbestimmtheit. Mit dem Einbruch des Todes beginnt die erst ungläubige, später dann immer verzweifeltere Befragung von Leben, Glauben und Gott. Im Büßergewand tritt dieser Jedermann schließlich ab, bevor Gott, Werke und Glaube wieder ein Tuch über die Szenerie breiten und die Bühne im Schwarz einer dystopischen Endzeit versinkt. Die Neuauslotung des "Jedermann" kann weitergehen. (22.07.2023, Stephan Hilpold)