Maria Sterkl aus Jerusalem

Es gibt einen Punkt, in dem wir uns von Ungarn und Polen unterscheiden", sagt Yael Shmueli, eine 57-jährige Managerin und Mutter von vier Kindern, die derzeit im unbezahlten Hauptberuf Demonstrantin ist, um "unser Land vor denen zu retten, die es zerstören wollen": Solche Proteste habe es auch in Ungarn und Polen gegeben, "aber das hat nicht gereicht". In Israel könnte der Protest erfolgreich sein, glaubt die frühere Kommandantin einer Panzerbrigade, "denn unser Joker ist: Wir haben eine Armee".

Kurz erklärt: Die geplante Justizreform in Israel
AFP

Tatsächlich könnte es der Protest der Armee sein, der die Regierung unter Benjamin Netanjahu am Ende davon abhält, die Justiz unter Regierungskontrolle zu bringen. Am Wochenende verkündeten mehr als zehntausend Reservisten aus 40 unterschiedlichen Einheiten der Armee, künftig nicht mehr für den Dienst zur Verfügung zu stehen, sollte die Regierung ihre Justizreform nicht stoppen.

Zumindest einen Minister der Netanjahu-Regierung dürften die Reservisten bereits überzeugt haben: Verteidigungsminister Joav Gallant kündigte an, der Justizreform seine Stimme zu verweigern, sollte das Gesetz nicht noch abgeschwächt werden. Die Koalition hätte jedoch auch ohne den Verteidigungsminister die benötigte Mehrheit im Parlament.

Brief des Generalstabschefs

In den Streitkräften herrscht wegen des breiten Reservistenprotests einige Nervosität. Generalstabschef Herzi Halevi wandte sich am Sonntag in einem Schreiben an Reservisten und Mitglieder der Armee. "Wenn unsere Armee nicht stark und vereint bleibt und wenn nicht unsere besten Kräfte in den Streitkräften dienen, werden wir als Staat auf lange Sicht nicht in dieser Region bestehen können", erklärte Halevi.

Proteste Israel Justizreform
Viele Demonstrantinnen und Demonstranten zelteten in Jerusalem im Sacher Park nahe der Knesset, um rechtzeitig zur Sondersitzung vor dem Parlament protestieren zu können.
EPA/ABIR SULTAN

Der Generalstabschef hätte eigentlich Sonntagmorgen zu einem Briefing mit Benjamin Netanjahu zusammentreffen sollen. Der Zeitpunkt des Treffens war kritisch: Um zehn Uhr begann das Plenum im Parlament, um den ersten Teil der umstrittenen Justizreform zu debattieren. Montagvormittag soll dann in zweiter und dritter Lesung abgestimmt werden. Der Premierminister sollte also im Vorfeld der entscheidenden Parlamentssitzung ins Licht der Tatsachen gesetzt werden.

Dazu kam es am Sonntagmorgen jedoch nicht, da sich Netanjahu in den Morgenstunden einen Herzschrittmacher einsetzen lassen musste. Bereits eine Woche zuvor hatte Netanjahu unter rätselhaften Umständen eine Nacht in der kardiologischen Abteilung des Sheba-Spitals verbracht. Damals hatten die Ärzte noch betont, der Politiker sei bloß "dehydriert", an seinem Herzrhythmus sei nichts auszusetzen. Am Sonntag gaben die Mediziner zu, nicht ganz bei der Wahrheit geblieben zu sein.

Aus Netanjahus Büro hieß es am Sonntag, dass der Premier bereits am Montag wieder aus dem Krankenhaus entlassen werden würde. In einer Videobotschaft sagte Netanjahu, dass es ihm "exzellent" gehe und er am Montag bei der Abstimmung im Parlament teilnehmen werde.

Dialog gefordert

Indes appellieren immer mehr prominente Persönlichkeiten an Netanjahu, den Gesetzgebungsprozess zu stoppen. Mehrere frühere Generalstabschefs und Geheimdienstchefs forderten den Premierminister auf, "einen Prozess des Dialogs mit breiter Zustimmung im Volk und in der Knesset einzuleiten".

Befürworter und Gegner des Regierungsplans zur Entmachtung der Justiz trommelten am Sonntag jeweils zu Massenprotesten. Mit den Worten "Das Volk steht zu euch! Verabschiedet das Gesetz!" rief die rechte Plattform "Protest der Million" zur Demo nach Tel Aviv, während das prodemokratische Lager rund um das Parlament in Jerusalem für einen Stopp der Gesetzgebung protestierte.

"Land steht in Flammen"

Im Parlament wurde am Sonntag heftig und emotional debattiert. "Unser Land steht in Flammen. Ihr habt unser Land zerstört", rief Orit Farkash-Hacohen, Abgeordnete der Nationalen Einheitspartei unter Benny Gantz, unter Tränen in Richtung der Koalitionsabgeordneten.

Oppositionsführer Jair Lapid rief die Regierung auf, erneut zu Verhandlungen über einen möglichen Kompromiss zusammenzutreten. Zwar gibt es in Netanjahus Likud-Partei Vertreter des moderaten Lagers, die eine solche Konsenslösung vorziehen würden. Ob sie sich durchsetzen, ist schwer vorauszusehen – zumal die rechtsradikalen Kräfte in der Koalition damit drohen, im Fall eines Einlenkens gegenüber der Opposition die Regierung platzen zu lassen. (Maria Sterkl aus Jerusalem, 23.7.2023)