Eineinhalb Millionen Christen und Christinnen hat es im Irak gegeben, als 2003 der Diktator Saddam Hussein durch die US-geführte Invasion gestürzt wurde. Nach 20 Jahren sind von ihnen nur etwa eine Viertelmillion übrig geblieben, laut manchen Schätzungen sind es nur 150.000. Die Gewalt von radikalen Islamisten – Sunniten und Schiiten gleichermaßen – hat die irakische Demografie verändert, viele Christen sind ausgewandert. Andere religiöse Minderheiten, die vom Islam nicht als Buchreligionen anerkannt werden wie Christentum und Judentum, sind als Ganze von der Auslöschung bedroht.

Der irakische chaldäische Patriarch, Kardinal Louis Sako, hält eine Messe in Erbil.
Kardinal Louis Raphael Sako, der Patriarch der chaldäischen Kirche im Irak, hält eine Messe in Erbil im Nordirak. Dorthin begab er sich, nachdem ihm der irakische Präsident die Anerkennung als Verwalter des chaldäischen Kirchenvermögens entzogen hatte.
AFP / Safin Hamid

Eine der wichtigsten und ältesten christlichen Kirchen im Irak, die chaldäische, durchlebt jedoch soeben ihre eigene Krise. Sie scheint hausgemacht, die politischen Machtverhältnisse im Irak spielen jedoch stark hinein. Louis Raphael Sako, der chaldäische Patriarch und Kardinal – den Titel trägt er, weil die Chaldäer zu Rom gehören –, hat seine Anerkennung durch den irakischen Staat als Verwalter des chaldäischen Kirchenvermögens verloren. Der irakische Staatspräsident Abdul Latif Rashid gab Anfang Juli die Aufhebung des entsprechenden Dekrets wegen verfassungsrechtlicher Ungültigkeit bekannt. Die Begründung glaubt dem Präsidenten aber kaum jemand, denn der Schritt kommt auf dem Höhepunkt einer Auseinandersetzung zwischen Sako und einer christlichen Miliz, den Babylon-Brigaden, beziehungsweise der dazugehörigen Partei, der Babylon-Bewegung.

Christliche Iran-Klienten

Die Babylon-Brigaden sind Teil der vorwiegend schiitischen "Volksmobilisierungseinheiten" (PMUs, Popular Mobilisation Units). Das sind mit iranischer Hilfe aufgestellte irakische Milizen, die ab 2014 im Nordirak gegen den aus einer radikalen sunnitischen Ideologie stammenden "Islamischen Staat" (IS) kämpften. Wegen der Verbindungen der PMUs zum Iran stehen auch die Babylon-Brigaden unter US-Sanktionen, die USA haben 2020 den iranischen Revolutionsgardengeneral Ghassem Soleimani und den irakischen Milizenchef Abu Mahdi al-Muhandis getötet. Die Babylon-Brigaden werden der schweren Menschenrechtsverletzungen beschuldigt, haben jedoch bei den Parlamentswahlen 2021 vier von fünf christlichen Sitzen im Parlament errungen. Angeführt werden sie von Ryan al-Kildani, mit dem sich Sako eine monatelange verbale Schlacht mit beiderseitigen Korruptionsvorwürfen lieferte. Es geht vor allem um Kirchenbesitz.

Sako verliert nicht die Anerkennung als Patriarch, aber die Kontrolle über das Kircheneigentum. Er hat sich von Bagdad nach Kurdistan zurückgezogen, in Erbil wurde er herzlich von der regierenden KDP (Kurdische Demokratische Partei), die von der Barzani-Familie dominiert wird, willkommen geheißen. Präsident Rashid steht auch deshalb unter Verdacht, im Interesse Kildanis zu handeln, weil Rashids Partei PUK (Patriotische Union Kurdistans) gemeinsame Sache mit dem Parteienblock "Schiitischer Koordinationsrahmen" macht, zu dem auch die politischen Vertreter der Iran-treuen Milizen gehören. Im westlichen Ausland wird der Irak noch immer vor allem durch das Prisma Kurden-Schiiten-Sunniten gesehen. In Wahrheit sind alle religiösen und ethnischen Gemeinschaften auch untereinander tief zerstritten – nun auch die Chaldäer.

Unterstützung vom Ayatollah

Nach der Entscheidung des Präsidenten bekam Sako typischerweise Unterstützung vom wichtigsten schiitischen Geistlichen des Irak, der auch weltweit Bedeutung hat, Großayatollah Ali Sistani in Najaf. Ihm nahestehende Medien schrieben von der Betroffenheit in Sistanis Umfeld darüber, wie der irakische Staat mit dem Kardinal umspringe. Der fast 93-jährige Sistani, der selbst aus dem Iran stammt, hat sich dem iranischen Einfluss, der nach dem Sturz Saddams 2003 kontinuierlich wuchs, immer verweigert. Zu Wort meldete sich auch das US-Außenministerium, man sei verstört über die "Schikanen gegen Kardinal Sako". Im Streit zwischen Sako und Kildani hatten sich zuvor schon mehrere europäische Staaten auf die Seite des Patriarchen gestellt. Präsident Rashid beteuerte, seine Aktion sei kein Angriff auf die chaldäische Kirche. Der Vatikan hält sich einstweilen bedeckt.

Die Babylon-Brigaden werden von manchen Christen als nützliche Idioten des Iran betrachtet, der auf diese Weise im Kerngebiet der Christen, der Ninive-Ebene im Nordirak, christliches Land unter seine Kontrolle bringen will. Der Zweck wäre demnach die Veränderung der Demografie zuungunsten der Christen und zugunsten der Schiiten. Durch die Auswanderung so vieler Familien stehen besonders viele christliche Immobilien und Land zur Disposition. So geht auch das Gerücht, dass die Babylon-Bewegung bei den Wahlen 2021 deshalb auch gezielt von Iran-treuen Schiiten von außerhalb der christlichen Region gewählt wurde.

Sako hat die chaldäische Kirche 2013 als Patriarch übernommen und wurde 2018 von Papst Franziskus – der 2021 den Irak besuchte – zum Kardinal ernannt. Er feierte soeben seinen 75. Geburtstag, anders als andere Bischöfe müssen die Patriarchen der Ostkirchen dem Papst bei Erreichung dieses Alters nicht den Amtsverzicht anbieten. Sako hatte geplant, dies dennoch zu tun. Sein Abschied wäre aber im Moment ein weiterer Sieg für seinen Herausforderer Kildani und den Iran. (Gudrun Harrer, 26.7.2023)