Jarrett
Ein Bild aus besseren, gesunden Tagen: Klavierexzentriker Keith Jarrett, vertieft in die Tasten, die ihm die Welt bedeuten.
Henry Leutwyler / ECM Records

Es scheint, als würde Keith Jarrett, wohl der bekannteste Jazzpianist auf Erden, in zwei Universen existieren. Das eine ist jenes der Tonträger. Der US-Amerikaner, der einst mit dem Köln Concert einen von ihm selbst eher ungeliebten Bestseller produzierte, wird von seiner Firma ECM fürsorglich dokumentiert. Neben den unzähligen Aufnahmen seiner Solo- und Triokonzerte erschienen in den letzten Jahren auch Munich 2016, das Budapest Concert und auch das Bordeaux Concert.

Dass nun Jarretts Auseinandersetzung mit der Klassik, die schon durch seine Vater-Bach-Aufnahmen und jene zu Mozart und Schostakowitsch offenbar wurde, in Form der Württembergischen Sonaten von Carl Philipp Emanuel Bach erschien, erinnert jedoch an das traurige zweite Universum, in dem Jarrett nun als reale Person lebt. Die Aufnahme ist nämlich eine Art Flaschenpost aus dem Jahr 1994. Der reale Jarrett kann nach zwei Schlaganfällen (im Jahr 2018) nicht mehr konzertreif spielen.

Seltsame Begegnung

In der dokumentierten seltsamen Begegnung mit dem Videoblogger Rick Beato ist es zu sehen: Jarrett empfängt den Gast in seinem Haus in New Jersey sitzend, langsam und gebrochen sprechend. Hin und wieder greift er in die Tasten. Er dreht mit der rechten Hand fragile Improvisationsrunden, was er selbst "Doodling" nennt. Die rechte Hand bleibt regungslos.

Auch wenn der nicht sehr sensibel wirkende Beato dem Angeschlagenen eine Version des Klassikers Solar vorspielt, als Erinnerung an einen Moment fulminanter Jarrett-Inspiration aus guten Jahren, wahrt Jarrett – sich selbst hörend – Contenance und kommentiert schließlich: "Ich hatte da wohl mehr Finger …", witzelt er wehmütig.

Monströser Anspruch

Die Gefühlslage ist nur zu verständlich. Jarrett war der körperbetont agierende Klavierekstatiker schlechthin. Er stöhnte unter den produzierten Tönen. In manch expressivem Moment hielt es ihn nicht auf dem Klavierhocker. Jarrett bog sich beim ekstatischen Spiel wie ein Limbotänzer, der unter dem Klavier verschwinden wollte.

Konzerte waren mehr als Konzerte, der Anspruch an sie war monströs. Jarrett, der, so seine Selbstbeschreibung, Tage vor Soloabenden das Klavier nicht anrührte, um sich schöpferisch aufzuladen, wollte Improvisation zum Komponieren in Echtzeit formen. Der Schaffensprozess sollte, von Routine befreit, das Besondere aus einem Zustand ekstatischer Entrückung gebären. Störung war unerwünscht. Kleine Lärmbelästigungen konnten zu Irritationen und Konzertabbrüchen führen...

Für Cembalo

Dieser utopische Ansatz gehörte zum Image des sensiblen Jarrett wie auch sein Interesse an der Klassik, das ihn dann aber als antisubjektiven Notenexegeten zeigte. Der Exzentriker, der die Grenzen zwischen Spieler und Instrument aufzulösen schien, war in der Klassik an Objektivität interessiert. Mit seinem Carl Philipp Emanuel Bach kann er zufrieden sein. Bei dem für Cembalo geschriebenen sechs Sonaten, die wie eine Zaubermusik des Übergangs zwischen Barock und Wiener Klassik wirken, herrschen Klarheit, Leichtigkeit und ästhetische Strenge.

Dennoch ist da impulsives Leben, hebt die Musik bisweilen auch poetisch ab. Hoffentlich hat ECM noch mehr Klassikausflüge von Jarrett mitgeschnitten. Im realen Universum wird man ihn nicht mehr hören. (Ljubisa Tosic,25.7.2023)