Unter ukrainischen Geflüchteten in Tirol herrscht Unsicherheit. Es kursieren Gerüchte: Bei Grenzübertritt verlöre man finanzielle Unterstützungsleistungen und Unterkunft, die Grundversorgung würde eingestellt. "Nicht Tirol verlassen!!!!", ist in Telegram-Nachrichten zu lesen, die auch dem STANDARD vorliegen. Selbst eine Fahrt nach Wien müsse man sich freigeben lassen. Eine Frau sei nach einem Abstecher mit ihren Kindern zum Gardasee nach Tirol zurückgekehrt und dort aufgefordert worden, das Hotel, in dem sie wohnte, sofort zu verlassen. Was steckt dahinter?

Der Eingang zu einer Unterkunft, dem Haus Marillac.
Das Ankunftszentrum Haus Marillac in Innsbruck im März 2022. Aktuell sind 3.904 Personen aus der Ukraine in Tirol gemeldet, 3.069 befinden sich in der Grundversorgung.
Johann Groder/APA

Die Sache mit der Grundversorgung

Erste Station der Spurensuche: das Tiroler Grundversorgungsgesetz. Grundsätzlich ist es so, dass geflüchteten Personen als "hilfs- und schutzbedürftige Fremde" über die Grundversorgung Leistungen erhalten können, welche auf die Deckung der täglichen Grundbedürfnisse ausgerichtet sind. Darunter fallen Verpflegung und Unterkunft, aber auch medizinische Versorgung und das Recht auf Information und Beratung. Der Anspruch auf Grundversorgung endet mit dem Verlassen des Landes. Kehr man zurück, ist man bei Vorliegen einer Hilfsbedürftigkeit wieder anspruchsberechtigt auf Leistungen im Rahmen der Grundversorgung. Dies gilt in ganz Österreich.

Nun war es offenbar aber so, dass sich Geflüchtete aus der Ukraine über einen längeren Zeitraum im Ausland aufhielten und weiterhin aktiv in der österreichischen Grundversorgung aufschienen, schildert ein Experte der Abteilung Soziales des Landes Tirol. Die gesetzlich verankerte "Melde- und Anzeigepflicht" von Auslandsaufenthalten sei oftmals nicht eingehalten worden. Aktuell seien 3.904 Personen aus der Ukraine in Tirol gemeldet. Ein Großteil – 3.069 Personen – befände sich in der Grundversorgung, bundesweit seien es rund 47.000.

Reisefreiheit weiterhin gegeben, aber ...

Dass Menschen Tirol nicht mehr verlassen dürften, wird vom Beamten hingegen klar in Abrede gestellt: "Da liegt ein Missverständnis vor." Er rät jenen, die Österreich verlassen möchten, sich an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Tiroler Soziale Dienste GmbH (TSD), der vom Land ausgegliederten Flüchtlingsgesellschaft, zu wenden.

Auch dort wird dem STANDARD auf Nachfrage schriftlich bestätigt: Prinzipiell stehe jenen, die über einen Ausweis für Vertriebene verfügen, "die Reisefreiheit innerhalb des Schengenraums" zu. Sollten Leistungen der Grundversorgung bezogen werden, sei es allerdings "notwendig", dass der Leistungsbezieher oder die Leistungsbezieherin am jeweiligen Wohnort bleibt. Kürzere Reisen würden geduldet. Jede Reise – egal ob im In- oder Ausland –, die länger als drei Tage dauert, sei aber jedenfalls zu melden.

Drohender Verlust der Unterkunft

Insbesondere bei organisierten Quartieren sei es deshalb so, "dass der Anspruch auf den Platz nur so lange aufrecht bleibt, wie die Person in Österreich ist", schreibt eine TSD-Mitarbeiterin. Erklärt wird das folgendermaßen: Es stünde nur eine begrenzte Anzahl an Wohnplätzen zur Verfügung, diese könne man nicht "weiter vorhalten, wenn sich die Personen im Ausland aufhalten". Betreuungspersonen seien deshalb kürzlich informiert worden, dass "bei unbekanntem Verzug oder unabgestimmter Ausreise die Plätze nicht vorgehalten und die Personen abgemeldet werden müssen".

Jene E-Mail der TSD dürfte der Anstoß der Aufregung gewesen sein. Das Schreiben liegt dem STANDARD vor. Mit Montag, dem 24. Juli, werde die Regelung umgesetzt, "dass für Ukraine-Vertriebene, wenn diese aufgrund von Urlaub, Ausbildung etc. langfristig das Land verlassen oder unbekannt verziehen, der Anspruch auf das Letztquartier der TSD nicht aufrecht bestehen bleibt", ist darin zu lesen. Es gebe keinen rechtlichen Anspruch auf eine bestimmte Unterkunft oder eine spezifische Unterbringungsweise, erklären die TSD.

Aufregung im Netz

Die Nachricht verbreitet sich rasch und erreicht auch Tanja Maier in Wien. Die ehrenamtliche Helferin ist in der ukrainischen Community gut vernetzt. Sie spricht fließend Russisch, verteilt Lebensmittelgutscheine unter Geflüchteten und hat einen Verein gegründet, über den sie unter anderem Hilfs- und Spendenanfragen koordiniert. Auf Twitter hat die Amerikanerin über 9.000 Follower.

Am Montag macht sie ihrem Ärger auf der Plattform Luft. Die Regelung erinnere sie an ein Gefängnis, twittert Maier. Es wirke auf sie, als müssten sich Ukrainerinnen und Ukrainer nun entscheiden, ob sie hierbleiben oder gehen, erklärt sie im STANDARD-Gespräch. Ihr Tweet erreichte tausende Nutzerinnen und Nutzer. Unter ihnen: der Tiroler SPÖ-Chef Georg Dornauer, erster Landeshauptmannstellvertreter und Ressortverantwortlicher für Flüchtlingsagenden.

Tanja Maier ist ehrenamtliche Helfer und in der ukrainischen Community gut vernetzt. Sie warnt davor, Tirol zu verlassen.
Twitter

Telefonseelsorge Dornauer

Dieser reagiert flugs: Er garantiere, dass es unter seiner Verantwortung in diesem Bereich keine Verschlechterung geben werde, twittert er am frühen Montagabend. Wer weiterführende Fragen habe, könne sich persönlich bei ihm melden, schrieb Dornauer und fügte seine Handynummer hinzu.

SPÖ-Chef und LHStv. Georg Dornauer, ressortverantwortlich für Flüchtlingsagenden, reagierte prompt auf Twitter und schickte gleich seine private Nummer mit.
Twitter

Dem STANDARD gegenüber präzisiert er tags darauf: Die bereits bestehende "Mitwirkungs- bzw. Anzeigepflicht" werde strenger kontrolliert, da österreichische Behörden immer öfter mit Fällen konfrontiert sind, in denen Geflüchtete wieder zurück in die Ukraine reisen, aber dort noch monatelang Leistungen aus der Grundversorgung beziehen. Das entspreche "nicht dem Sinn und Zweck dieser Regelung, die darauf abzielt, Asylwerber sowie hilfs- und schutzbedürftige Kriegsflüchtlinge in Österreich zu versorgen“.

Foto von Georg Dornauer.
Alle relevanten Veränderungen in Bezug auf Sozialleistungen seien zu melden, erinnert der für Flüchtlingsagenden verantwortliche Landeshauptmannstellvertreter Georg Dornauer.
APA/EXPA/JOHANN GRODER

Den Ukrainerinnen und Ukrainern stehe es aber "selbstverständlich zu, sich frei zu bewegen und auch unser Staatsgebiet zu verlassen". Als Bezieherinnen und Bezieher der Grundversorgung seien sie jedoch verpflichtet, "alle relevanten Veränderungen in Bezug auf die Sozialleistungen zu melden". Wenn es "berechtigte Abreisen und Abwesenheiten" gäbe, ließe sich gemeinsam eine Lösung finden. "Je mehr Informationen die Betreuenden vor Ort über die Abwesenheit erhalten, desto klarer die Situation nach der Rückkehr", erklärt der SPÖ-Politiker weiter.

Einige Personen hätten sich bei Dornauer telefonisch und auf Whatsapp gemeldet, berichtet seine Sprecherin. "Wenig auffallend" sei das, führe Dornauer täglich doch bis zu 70 Telefonate. Außerdem sei seine Handynummer bereits seit einigen Jahren öffentlich. Er führe auch als einziges Regierungsmitglied kein Diensthandy. (Maria Retter, 25.7.2023)