Ökonom Franz Sinabell schreibt in seinem Gastkommentar über das gescheiterte Getreideabkommen und darüber, wie Russland in diesem Bereich strategisch vorgeht.

Im Kommentar "Moskaus Hungerwaffe wird zum Bumerang" legt Eric Frey dar, dass Putin Verbündete brüskierte und die EU sowie die USA auf dem Sanktionsregime möglichst wenig ändern wollen. Um zu verstehen, warum es so schwer ist, Konzessionen ganz zu vermeiden, lohnt es sich, die Besetzung der Krim in Erinnerung zu rufen.

Bereits damals setzte Russland auf eine kohärente Strategie, die sich nun nach und nach entfaltet. Länder der EU und deren Verbündete werden geschickt in Zwickmühlen gezwängt, um das Kernziel zu erreichen: Die Gegner Russlands sollen geschwächt werden, möglichst bis zur Unterwerfung. Das Schüren von Zwist in der Koalition der EU, das Streuen von Zweifel an der Wirksamkeit ihrer Maßnahmen und das Anstacheln von Zerwürfnissen unter verschiedenen Gruppen sind Mittel dazu.

Weizen Ukraine Russland Abkommen
Der Getreidedeal zwischen Russland und der Ukraine ist ausgelaufen. Wie geht es nun weiter?
REUTERS/ALEXANDER ERMOCHENKO

Die Antwort der EU auf die völkerrechtswidrige Eingliederung der Krim vom 18. März 2014 kam am 31. Juli mit einer Ratsverordnung. Sie schränkte den Handel mit Kriegsgerät, technischen und finanziellen Dienstleistungen ein. Das Ziel war und ist, die militärische Kapazität zu schwächen, ohne die russische Bevölkerung in Mitleidenschaft zu ziehen. Knapp einen Monat später folgte die Gegenreaktion. Russland blockierte Agrarimporte aus der EU und von Verbündeten.

Die vom Importverbot betroffenen Güter wurden dabei sorgfältig gewählt, um zwei Ziele zu erreichen. Österreich und andere Länder verloren einen wichtigen Absatzmarkt für Obst, Gemüse und Milchprodukte. An der Grenze stauten sich Produkte, die teils vergammelten, teils in der EU verschleudert werden mussten. Die EU-Agrarexporte nach Russland halbierten sich auf fünf Milliarden Euro pro Jahr. Auf vielen Märkten sanken die Preise. Gut organisierte Verbände der Agrar- und Lebensmittelwirtschaft reagierten wie beabsichtigt. Sie bauten politischen Druck auf, damit die EU von den Sanktionen abrücke. Diese reagierte geschmeidig, indem stattdessen der wirtschaftliche Schaden kompensiert wurde. Dennoch: Politisch wichtige Gruppen in der EU äußerten Unmut gegen die Sanktionen. Das erste Ziel Russlands war erreicht, die Schwächung der Einigkeit.

Lästige Konkurrenz

Die Agrarindustrie Russlands, endlich der lästigen ausländischen Konkurrenz entledigt, investierte in den Ausbau der Produktion. Nunmehr im Inland erzeugte Lebensmittel kamen mit geschmalzenen Preisaufschlägen auf den Markt. Das zweite Ziel war erreicht. Einflussreiche Gruppen gewannen wirtschaftliche Vorteile.

Aus dem Köcher der EU-Sanktionen ist mittlerweile ein Arsenal geworden. Die Ratsverordnung von 2014 ist von elf auf 293 Seiten angewachsen. Aber einige Instrumente sind tabu. Die Sorge um die Teuerung von Lebensmitteln, die hunderte Millionen Menschen auf der ganzen Welt trifft, ist ein Spalt, in den der Keil der russischen Strategie mit unerbittlicher Wucht getrieben wird. Wir beobachten nun ungemein perfidere Winkelzüge, um dieselben Ziele wie 2014 zu erreichen.

Zunächst zur härteren Gangart, um lästige Konkurrenz loszuwerden und gleichzeitig Eliten weiter zu bereichern. Ukrainische Vorratslager und Hafenanlagen sind zerstört, Ackerflächen sind vermint, und ertragreiche Produktionsgebiete stehen unter russischer Kontrolle. In diesem Jahr werden nicht 19 Millionen Tonnen Weizen aus der Ukraine exportiert werden wie noch 2021, sondern bestenfalls halb so viel. Russland exportierte im Vorjahr nicht 19 Millionen Tonnen Weizen wie im Jahr 2014, sondern 46 Millionen, und das zu Preisen, die wegen des Kriegs doppelt so hoch waren. Im laufenden Jahr wird Russland die Ausfuhren wohl weiter steigern und damit die Position als weltweit bedeutendster Exporteur ausbauen.

Zwist und Zweifel

Nun zum Schüren von Zwist und zum Streuen von Zweifel unter der Koalition der Gegner Russlands: Der Ausfall der Exporte schwächt die ukrainische Wirtschaft ungemein, sie muss von den Verbündeten gestützt werden. Daher wurde bereits im Vorjahr der Handel erleichtert. Agrargüter können nun zollfrei aus der Ukraine in die EU eingeführt werden. Die Reaktionen auf diese Maßnahme geben uns einen Vorgeschmack auf Widerstände, die weitere Schritte zur wirtschaftlichen Stabilisierung der Ukraine auslösen können. Die Getreidepreise in ganz Europa würden wegen der ukrainischen Billigware ins Bodenlose stürzen, mäkeln jene, die auf steigende Preise gesetzt hatten. Ukrainische Oligarchen würden sich auf Kosten von Kleinbauern in der EU bereichern. Die Ware sei mit chemischen Rückständen kontaminiert. Keines dieser Argumente ist stichhaltig. Immerhin, jene, die unter lokalen Marktverwerfungen litten, wurden großzügig aus EU-Mitteln entschädigt.

Wie ist nun der Ausblick? Wohl so wie der Rückblick. Die Schwarzmeerroute zu öffnen wird ohne Konzessionen an Russland nicht möglich sein. Nach einer Weile wird sie wieder blockiert werden. Ein neues Entgegenkommen wird nötig sein und so weiter. Bleibt dem Westen also nichts anderes übrig als klein beizugeben? Nicht ganz, denn der rasche Ausbau der Frachtkapazität über die Donauroute ist eine Möglichkeit, die Blockade zumindest teilweise zu umgehen. (Franz Sinabell, 26.7.2023)