Förderer des jüdischen Lebens in Europa, Oligarch mit engen Verbindungen zum russischen Regime. Vorkämpfer gegen Antisemitismus, Propagandist für Wladimir Putin.

Auf die Frage, wer Wjatscheslaw Mosche Kantor ist, erhält man viele Antworten – je nachdem, mit wem man spricht. Fakt ist, dass der 69-jährige Russe, der mehr als ein Jahrzehnt lang den European Jewish Congress (ECJ) geleitet hat, unter den ersten Personen war, die nach Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine sanktioniert wurden – und dass es gegen diese Entscheidung des Europäischen Rats nach wie vor heftige Proteste gibt.

Unter denjenigen, die für Kantor intervenieren, soll sich vor allem Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP) hervortun. Er soll bei Besuchen in Brüssel mit hochrangigen EU-Politikern über die Personalie gesprochen haben, obwohl er für Sanktionen und Außenpolitik nicht zuständig ist.

Für Sobotka ein "Visionär"

Dass Sobotka große Stücke auf den russischen Milliardär hält, steht außer Frage. Dieser sei ein jüdischer Visionär, ein Humanist und ein Vordenker, der "seine Energie nicht nur dem Wohlbefinden der jüdischen Gemeinschaften, sondern auch der Förderung europäischer Werte und der Verbesserung der europäischen Gesellschaft gewidmet hat": So tönte Sobotka, der sich den Kampf gegen Antisemitismus auf die Fahnen heftet, noch im November 2021, als er Kantor das Große Goldene Ehrenzeichen der Republik überreichte.

Mosche Kantor und Wolfgang Sobotka
Mosche Kantor und Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP).
Parlament/Zink

Auch Sebastian Kurz (ÖVP) hatte mit Kantor zu tun: Er dockte wenige Wochen nach seinem Rückzug aus der Politik beim Europäischen Rat für Toleranz und Versöhnung (ECTR) an, der im Jahr 2008 von Kantor gegründet worden war. Er wisse aus erster Hand, wie ernst Staatschefs die Arbeit dieser Organisation nehmen, und freue sich auf die Arbeit mit Kantor, sagte Kurz.

Aktivitäten konnte der Ex-Kanzler im ECTR allerdings nicht entfalten: Nur drei Monate nach seinem Einstieg, im April 2022, wurde Kantor von der britischen Regierung und der EU sanktioniert, woraufhin das ECTR seine Arbeit einstellte und Kurz sein Mandat zurücklegte. Die Begründung für die Sanktionen: Kantor, Anteilseigner an einem der größten Düngemittelhersteller Russlands, habe sein "beträchtliches Vermögen" auch durch seine "Verbindungen zum russischen Präsidenten" sichern können. Er habe Wladimir Putin "bei zahlreichen Gelegenheiten offen seine Unterstützung und Freundschaft bekundet" und unterhalte "gute Beziehungen zum Kreml".

Wjatscheslaw Mosche Kantor ist ein russischer Oligarch, der ein großer Anteilseigner der börsennotierten Acron Group ist, einem der größten Düngemittelhersteller Russlands. Er hat enge Verbindungen zu Präsident Wladimir Putin. Diese Verbindungen zum russischen Präsidenten halfen ihm, sein beträchtliches Vermögen zu sichern. Er hat Putin bei zahlreichen Gelegenheiten offen seine Unterstützung und Freundschaft bekundet und unterhält gute Beziehungen zum Kreml. Dadurch hat er von russischen Entscheidungsträgern profitiert, die für die rechtswidrige Annexion der Halbinsel Krim durch die Russische Föderation oder die Destabilisierung der Ukraine verantwortlich sind. Er gehört auch zu den führenden russischen Geschäftsleuten, die in Bereichen der Wirtschaft tätig sind, die der Regierung der Russischen Föderation als wichtige Einnahmequelle dienen.

Hauptredner Putin

Kantor soll beispielsweise geholfen haben, die Beziehungen zwischen dem israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu und Putin zu verfestigen. Im Rahmen des World Holocaust Forum 2020 in Jerusalem, das maßgeblich von Kantor finanziert wurde, hielt Putin eine Festrede, in der er vor Russophobie und Judenhass warnte. Später enthüllte er ein Denkmal nahe dem israelischen Parlament, das an die Blockade von Leningrad (heute St. Petersburg) erinnern sollte, das von 1941 bis 1944 von der deutschen Wehrmacht von der Außenwelt abgeschnitten wurde.

Bei anderer Gelegenheit lud Putin europäische Juden, die unter Antisemitismus litten und an Emigration dachten, ein, nach Russland "zurückzukehren" – als Kantor daneben stand. Dabei ist die russische Gesellschaft nach wie vor von Antisemitismus durchzogen, und auch der Angriffskrieg gegen die Ukraine wird mit antisemitischen Narrativen begründet. So soll der südliche Nachbarstaat ja "entnazifiziert" werden, obwohl der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj selbst jüdischer Herkunft ist.

Zu all dem äußerte sich Kantor nicht, wenngleich er Hilfskonvois für die ukrainische Bevölkerung organisierte.

Muzicant: Sanktionierung ist Angriff auf jüdisches Leben

Große Teile der jüdischen Community stehen jedenfalls eng an Kantors Seite. So auch Ariel Muzicant: Der Wiener, der von 1998 bis 2012 Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien war, ist Kantors Nachfolger als Präsident des European Jewish Congress. Durch die Sanktionen gegen Kantor werde "jüdisches Leben in Europa vernichtet", sagt Muzicant zum STANDARD. Die jüdischen Gemeinschaften würden "enormen Schaden" nehmen, weil die finanzielle Unterstützung durch Kantor nicht mehr möglich sei.

Muzicant habe es zwar eingangs nicht unterstützt, dass Kantor Präsident des ECJ wurde, es habe sich jedoch um eine demokratische Wahl gehandelt, die man akzeptieren müsse. Warum Kantor sanktioniert worden sei? Laut Muzicant handle es sich um eine "Vendetta" der polnischen Regierung, die von Kantor wegen des steigenden Antisemitismus in Polen und fehlender Kooperation mit jüdischen Verbänden kritisiert worden sei. "Kantor hat sich kein Blatt vor den Mund genommen und kriegt nun die Retourkutsche dafür", sagt Muzicant.

Ariel Muzicant 
Ariel Muzicant bei der Verleihung des Simon-Wiesenthal-Preises im Mai 2022 in Wien.
APA/HANS PUNZ

Er selbst kämpfe jedenfalls gegen Kantors Sanktionierung, in dieser Sache habe er auch mit dem Bundeskanzler und dem Außenminister geredet; auch in anderen Ländern wie Deutschland, Ungarn, Tschechien, Italien und Frankreich thematisiere er Kantor.

Der Oligarch, der neben der russischen auch die britische und die israelische Staatsbürgerschaft besitzt, bekämpft seine Sanktionierung auch juristisch: Seine französischen Anwälte haben beim EU-Gerichtshof eine Beschwerde gegen die EU-Kommission eingebracht. Auf eine Anfrage des STANDARD reagierten Kantors Anwälte nicht. Berichtet wurde bereits, dass sich innerhalb der Union vor allem Ungarn für Kantor starkgemacht hat. Ein Sprecher der EU-Kommission sagt, man kommentiere einzelne Sanktionsvorgänge "niemals öffentlich", dieser Prozess finde "vertraulich" statt. Betont wird aber, dass Sanktionsmaßnahmen "einstimmig" beschlossen werden.

Sobotka: "Vertrauliche Gespräche"

Die offizielle Regierungslinie Österreichs sei jedenfalls, die Sanktionen gegen Kantor mitzutragen, heißt es aus dem Außenministerium und von Europaministerin Karoline Edtstadler. Weder sie noch Außenminister Alexander Schallenberg (beide ÖVP) hätten "Bemühungen gesetzt, dass einzelne Personen, etwa Mosche Kantor, von diesen Sanktionslisten wieder gestrichen werden". Immerhin habe man die Sanktionen ja auch selbst mitbeschlossen.

Aus dem Umfeld von Ex-Kanzler Kurz heißt es, er finde die Sanktionierung von Kantor zwar ungerecht, habe sich aber nicht für ein Ende der Maßnahmen starkgemacht. Geschäftsbeziehungen zu Kantor gebe es nicht.

Anders klingt das bei Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka. Auf Anfrage sagt ein Sprecher, dieser tausche sich "regelmäßig mit den unterschiedlichsten Persönlichkeiten über die unterschiedlichsten Themen aus". Und: "Ich hoffe, Sie haben Verständnis dafür, dass diese Gespräche vertraulich sind und auch so behandelt werden." Eine Nachfrage samt Klarstellung, dass es dafür kein Verständnis gibt, wurde nicht mehr beantwortet. Das Außenministerium betont: "Die Linie der Bundesregierung in dieser Thematik ist glasklar und wird sich auch nicht ändern." (Fabian Schmid, Adelheid Wölfl, 27.7.2023)