In seinem Gastkommentar schreibt der Ökonom Kurt Bayer über die Rolle Europas in der Weltwirtschaft.

Die Journalisten Joseph Gepp und Thomas Mayer schreiben in alarmierendem Ton im STANDARD über Verschiebungen in der Weltwirtschaft, wonach die EU in den letzten 40 Jahren "Marktanteile" verloren hat, und zwar mehr als die USA. Ja, das dürfte stimmen, aber wo ist das Problem? Soll die EU mit alternder Gesellschaft steigende Marktanteile in der Welt erzielen, also das gemessene Wirtschaftswachstum stärker steigern als China, als Indien, als Brasilien und viele andere? Wem würde dies nützen? Etwa der Umwelt, dem Weltklima – ein Thema, das in diesem Artikel nicht einmal erwähnt wird? Was soll dieser "Wettbewerb", auch das dazu gehörende Bild mit einem Hürdenwettrennen suggeriert, dass "der Erste" ein "Gewinner" sei.

Europa Wirtschaft China USA
Europa sollte vor allem Wirtschaftspolitik für seine Bürgerinnen und Bürger machen.
Getty Images/iStockphoto

Es ist ein überkommenes Bild, dass Größe, also das höchste Nationalprodukt der Welt zu haben, etwas Erstrebenswertes ist. Machtpolitik à la 19. Jahrhundert hat doch wohl als Maßstab für den künftigen Wohlstand ausgedient, oder?

Und die "Systemfrage"? Gepp/Mayer schlagen mit dem Ökonomen Daniel Gros vor, dass es gelte, "Waren zu exportieren", also das bisherige System mit dem Exportüberschuss der EU weiterzuführen. Nicht erwähnt wird dabei, dass dieses System – also die marktliberale Ausrichtung der EU mit ihrer Faszination als "Exportweltmeister" – uns genau in die beklagte Misere gebracht hat, während die genannten Kontinente China und die USA sich weitgehend und zunehmend protektionistisch abschotten. Die Ironie dabei: Während lange Zeit die USA (und die anderen angelsächsischen Länder und ihre Satrapen) der Hort der "Marktfreiheit" waren, haben diese seit der Finanzkrise 2008 immer stärker zugunsten von Staatsinterventionen und Abschottungen darauf verzichtet. Während China sich trotz seines Beitritts zur Welthandelsorganisation (WTO) 2001 nicht, wie von vielen erhofft, weiter geöffnet hat, ist die EU "standhaft" bei ihrem marktliberalen Credo der offenen Märkte (intern und extern) geblieben und hat sich – volkswirtschaftlich kontraproduktiv – für ihren Exportüberschuss als Zeichen ihrer überlegenen "Wettbewerbsfähigkeit" selbst gefeiert.

"Das von Interessen getriebene Beharren der europäischen Politik auf "Marktlösungen", während die Welt bereits ganz anderes interveniert, kostet viel und bringt wenig."

Ein globaler "Wettbewerb" um das größte BIP – wie Gepp/Mayer vorschlagen – ist für die EU-Bürgerinnen und -Bürger sinnlos. Statt auf die anderen zu schielen (und damit auf externe "Wettbewerbsfähigkeit" mit niedrigen Löhnen zu setzen), sollte sich die EU auf ihren riesigen heimischen Markt konzentrieren und ihre wirtschaftspolitischen Prioritäten danach ausrichten. Natürlich müssen für die notwendigen Importe im Gegenzug Exporte geleistet werden, aber als sich selbst feiernder "Exportweltmeister" unterzugehen, weil man die heimischen Konsumentinnen und Konsumenten ignoriert, die von den hier erzielbaren Gehältern leben und konsumieren, kann doch nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Viel wichtiger, als Größe nachzulaufen, wäre es, wichtige Weichenstellungen für die Weltwirtschaft durch europäische Standards in Produktsicherheit, in Umwelt- und Klimafragen, bei auch anderswo erzeugten technischen Neuheiten (Digitalisierungsplattformen, Artificial Intelligence etc.) durchzusetzen und sich im globalen Dialog dafür einzusetzen.

Nicht erst die letzten Jahre sollten auch unseren Politikerinnen und Politikern klargemacht haben, dass das exzessive Setzen auf "marktkonforme" Interventionen nicht den gewünschten Erfolg bringt, wie die Verwerfungen durch den Umweltzertifikatehandel, der weitgehend von Spekulation getrieben wird, durch die unsäglichen "Offsets", wo Firmen sich freikaufen durch im Ausland niemals kontrollierbare Aufforstungen und andere Scheinaktivitäten nicht zuletzt beweisen.

Das von Interessen getriebene Beharren der europäischen Politik auf "Marktlösungen", während die Welt bereits ganz anderes interveniert, kostet viel und bringt wenig: Es mag zwar bei den Interessenvertretungen weniger Gegenmacht hervorrufen als klarere regulatorische Vorgaben, aber wir müssen doch von unserer Politik "klare Kante", also Führungsstärke in wichtigen Fragen einfordern und erwarten – und nicht nur eine am nächsten Wahlerfolg ausgerichtete klientelistische Kuschelpolitik.

Das Auf und Ab in der Weltwirtschaft ist nichts Neues: Die einstige Weltmacht Großbritannien ist heute ein schlingerndes Beiboot, Deutschlands Großmachtpläne endeten in der Zerstörung Europas und im Blutbad, die USA wurden erst seit Ende des Zweiten Weltkrieges zur herrschenden Macht, und so sollte Europa, die EU, nicht auf den nicht erreichbaren ersten Platz schielen, sondern Wirtschaftspolitik für seine Bürgerinnen und Bürger machen. Denen ist zu Recht das eigene Wohlergehen – samt einer effektiven Umwelt- und Klimapolitik – jedenfalls wichtiger als suggerierte Großmachtträume.

Großer Handlungsbedarf

Das heißt nicht, dass es nicht riesigen Handlungsbedarf in der EU gibt: Die Verfasstheit der EU mit 27 Ländereinzelinteressen, einer schwachen, wenn auch oft zukunftsfähig agierenden Kommission (siehe besonders den Green Deal mit seinen Anhängen), einem schwachen zersplitterten Parlament ist jedenfalls der raschen Notwendigkeit, strategisch zu handeln – hier vor allem angesichts der manifesten Klimakrise –, derzeit nicht gewachsen.

Hier gibt es raschen und massiven Handlungsbedarf, damit die EU auch eine Rolle in der ganz dringend notwendig gewordenen globalen Kooperation zur Lösung der riesigen globalen Probleme spielen kann. Es geht dabei nicht um das größte Brutto-Inlandsprodukt, sondern um die strategisch durchdachten Lösungsvorschläge und Kompromisse, mit denen alle Länder der Welt leben können. Und dazu braucht es die innere Geschlossenheit der EU, Geschlossenheit innerhalb der Mitgliedsstaaten, damit man auch nach außen stark auftreten kann. (Kurt Bayer, 28.7.2023)