Es war vermutlich die verkehrsgünstige Lage, die Rom dazu veranlasst hatte, aus dem wahrscheinlich ehemals keltischen Nest am linken Traun-Ufer in der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts nach Christus eine römische Siedlung zu machen. Was später einmal das oberösterreichische Wels werden sollte, wurde kaum ein halbes Jahrhundert später unter Kaiser Hadrian, der von 117 bis 138 nach Christus regierte, zur Stadt erhoben, die mit vollem Namen Municipium Aelium Ovilava hieß.

Drei Verkehrswege bildeten an diesem Traun-Übergang einen wichtigen Knotenpunkt: Eine Straße führte von hier ausgehend über das heutige Eferding an den Donaulimes nach Passau; die sogenannte Norische Hauptstraße kam von Süden und führte nach Norden weiter, und der dritte Verkehrsweg war die Ost-West-Verbindung entlang der Donau Richtung Iuvavum, das heute Salzburg heißt. Es ist gut vorstellbar, dass jener fremde Besucher, dessen einstiger Besitz nun rund 2.000 Jahre später für Aufregung sorgen sollte, auf einem dieser Wege in das antike Ovilava gekommen war.

Eine bereits etwas in die Jahre gekommene Rekonstruktion des römischen Ovilava.
Eine bereits etwas in die Jahre gekommene Rekonstruktion des römischen Ovilava.
Illustr.: Stadt Wels/privat

Merkwürdige Schriftzeichen

1918 wurden bei Ausgrabungen in Wels nördlich der heutigen Salzburger Straße Teile der ursprünglichen römerzeitlichen Ost-West-Verbindung sowie südlich davon gelegene Gebäudereste freigelegt. Möglicherweise handelte es sich dabei um eine römische Metallwerkstätte, aber ganz sicher ist man sich da nicht. Unter den freigelegten Artefakten aus dem 2. Jahrhundert nach Christus befand sich auch ein außergewöhnliches Fundobjekt: ein Stück Elfenbein, das sich als Messergriff ohne Klinge entpuppte und für Jahrzehnte ein anonymes Dasein im Depot des Stadtmuseum Wels-Minoriten fristete. Erst in den 1990er-Jahren entdeckte die heutige Kuratorin des Stadtmuseums, Renate Miglbauer, das gute Stück wieder. Sie ließ es restaurieren und es wanderte in die archäologische Dauerausstellung des Museums.

Das Besondere an dem Griff sind ein eingeritztes Porträt an der Hinterseite sowie Schriftzeichen, von denen man zunächst nur eines mit Sicherheit sagen konnte: Es sind keine römischen oder griechischen Buchstaben. Die Herkunft des Messergriffs blieb daher schleierhaft, wenn auch schon gewisse Hypothesen kursierten. So tippte der damalige Stadtarchäologe Ferdinand Wiesinger auf den orientalisch-ägyptischen Raum als Herkunftsort. Andere Fachleute wiederum glaubten eher an einen mittelpersischen Ursprung und einen Zusammenhang mit dem Mithraskult.

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Der Elfenbeingriff eines Messers wurde vor 105 Jahren auf dem Gebiet der römerzeitlichen Stadt Ovilava entdeckt. Eingeritzte Zeichen stellten die Forschenden lange Zeit vor ein Rätsel.
Foto: Stadt Wels

Ein Indologe löst das Rätsel

Doch was nun der Archäologe und Althistoriker Stefan Pfahl von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf gemeinsam mit einem Kollegen über den Messergriff herausfinden konnte, geht nicht nur geografisch weit über diese früheren Vermutungen hinaus. "Nach einigen Sackgassen konnte ich den potenziellen sprachlichen Bereich, aus dem die Messerinschrift kam, immerhin so weit eingrenzen, dass ich schließlich den richtigen Fachmann für die Lösung dieses Rätsel finden konnte", sagte der Wissenschafter gegenüber dem STANDARD.

Der Mann heißt Harry Falk, ist emeritierter Indologe an der Freien Universität Berlin und Spezialist für altindische Sprachen. Falk gelang es tatsächlich, die eingeritzte Zeichenfolge als die altindische Schrift Kharosthi zu identifizieren – und er konnte sie übersetzen: Aus der Inschrift geht hervor, dass das Messer einst ein Ehrengeschenk für einen Mann namens Tadara war. Wörtlich heißt es dort: "Ehre verleihende Gabe für Herrn Tadara". Wer Tadara dieses Messer überreichte, bleibt unklar, doch das am Griffende eingeritzte Gesicht könnte durchaus den Geehrten selbst darstellen, meinte Pfahl.

Lokaler Dialekt aus der Taklamakan

Aus diesen Befunden, die in den nächsten Wochen im "Archäologischen Korrespondenzblatt" veröffentlicht werden, ergeben sich nach Meinung der Wissenschafter sehr spannende, um nicht zu sagen sensationelle Konsequenzen: Aufgrund der speziellen Variante von Kharosthi, einem Lokaldialekt namens Khar, verortet Falk den Ursprung des Messers und seines Besitzers mit hoher Wahrscheinlichkeit in Niya, einem bedeutenden Handelszentrum am südlichen Zweig der Seidenstraße.

Die Stadt im westlichen Teil der Taklamakan-Wüste gibt es schon lange nicht mehr, schwere Dürren und Wassermangel ließen sie in den ersten Jahrhunderten nach Christus zugrunde gehen. Ihre Überreste liegen heute auf dem Gebiet der Volksrepublik China in der autonomen Region Xinjang.

Auf der Rückseite des Griffes wurde das Porträt eines Mannes eingeritzt. Nachdem es sich bei dem Messer um ein Ehrengeschenk handelte, könnte das Bild durchaus den einstigen Besitzer zeigen.
Auf der Rückseite des Griffes wurde das Porträt eines Mannes eingeritzt. Nachdem es sich bei dem Messer um ein Ehrengeschenk handelte, könnte das Bild durchaus den einstigen Besitzer zeigen.
Foto: Stadt Wels

Ein einzigartiges Artefakt

Damit stellt der Messergriff einen einzigartigen Fund dar, denn kein anderes bekanntes Objekt aus dieser zentralasiatischen Region hat es in der frühen römischen Kaiserzeit bis so weit in den Westen geschafft. Als bisheriger Rekordhalter galt ein Schwerttragebügel aus der Taklamakan-Wüste, der in Čatalka in Bulgarien in einem thrakischen Häuptlingsgrab gefunden wurde.

"Dass Rom Handelsbeziehungen mit dem fernen Asien unterhielt, ist allerdings keineswegs neu", sagte Pfahl. "Darauf lassen etwa die zahlreichen römischen Gold- und Silbermünzen schließen, die man in Indien gefunden hat." Bloß hätten diese damit erworbenen Waren wie etwa Seide nur in den seltensten Fällen die Jahrhunderte in Europa überlebt.

Besuch aus dem fernen Asien?

Ein Handelsgut freilich dürfte das Messer aus der Taklamakan nicht gewesen sein, glaubt Pfahl. Denn die Geschenkinschrift auf dem Griff mache nur in dem geografischen Raum Sinn, wo sie gelesen und die Sprache verstanden wurde. Man könne also wohl eher davon ausgehen, dass der sowohl namentlich als auch vermutlich bildlich verewigte Tadara das Messer als seinen persönlichen Besitz selbst in das römische Ovilava gebracht hat.

Die Hintergründe dieser gewaltigen, rund 6.000 Kilometer langen Reise über die Seidenstraße bleiben der Fantasie überlassen. Vielleicht war ja Tadara auch nicht der einzige Besucher aus dem fernen Osten, der durch die verkehrsmäßig begünstigte Lage dieser römischen Stadt einst den Weg in das antike Wels gefunden hat. (Thomas Bergmayr, 28.7.2023)