St.Moritzersee
Idealer Platz für Sommerfrische: St. Moritz am St. Moritzersee hat vor hundert Jahren noch nicht so ausgesehen, aber Gäste immer schon magisch angezogen.
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Wir alle spüren Teuerung und Inflation, doch vor hundert Jahren, im Sommer 1923, war alles noch viel schlimmer, es tobte die Hyperinflation, ein Abendessen kostete in Berlin einen Millionenbetrag, in Wien stiegen die Kronenbeträge ins Kosmische. Erst als der Völkerbund und das Ausland halfen und den Rotterdamer Wächter Alfred Rudolf Zimmermann nach Wien sandten, wo er im Augartenpalais residierte und die Versiegelung der Notenpresse kontrollierte, wurde es langsam besser, und der Schilling erwies sich dann als stabile Währung.

In der prekären Wirtschaftslage des Jahres 1923 kratzte der Autor Arthur Schnitzler seine harten Dollars und niederländischen Gulden zusammen und ging auf Reisen. Zweimal besuchte er in Baden-Baden seine Ex-Frau Olga, wo er auch die pubertierende Tochter Lili abgab, da er einen Urlaub mit Lebensgefährtin Clara Katharina Pollaczek in der kühleren Schweiz geplant hatte.

Schnitzler liebte die 13-jährige Lili sehr, aber sie machte dem Alleinerziehenden das Leben schwer. Durch ihre Aussage bei der Kriminalpolizei, ein Mann mit grüner Brille habe ihr plötzlich den Zopf abgeschnitten, wurde Schnitzler blamiert. Das geschilderte Ereignis vor einem Innenstadtgeschäft klang wenig glaubwürdig, denn die aufgeweckte Tochter wünschte eine moderne Kurzhaarfrisur, die der Vater nicht erlaubt hatte; so griff sie zu einer List, die der 61-Jährige glaubte, bis ein Ermittler ihn vom Gegenteil überzeugte. Der Brillen-Mann war eine Erfindung, Lili gestand unter Tränen, den Zopf selbst abgeschnitten zu haben. Ein anderes Mal sorgte ein teures Konfektionskleid, das sie eigenmächtig bestellte, für Ärger.

Druck in der Herzgegend

Aber das waren alles harmlose pubertäre Streiche, die im Verhältnis zu den wirklichen Tragödien wie dem frühen Tod der Tochter im Jahr 1928 in Venedig eine vernachlässigbare Dimension aufwiesen. Auch Geld- und Steuersorgen waren zu ertragen: Immerhin sprudelten trotz unerlaubter Übersetzungen, vor allem im sowjetischen Raum, die Tantiemen regelmäßig.

Als gravierender erwiesen sich die gesundheitlichen Probleme, das zwitschernde Ohr, der deprimierende Tinnitus, der durch Verkalkung bedingt war, ein unerklärlicher Druck in der Herzgegend und die morgendlich sehr schwankenden Stimmungen, die Schnitzler mitunter weinend oder in unerklärlicher Weise wütend aufwachen ließen.

Nun war endlich die Urlaubs- und Reisezeit angebrochen, die Wahl fiel auf das Engadin. Allein bestieg der Autor den Zug in Baden-Baden, passierte Ulm und las im Abteil Richard Coudenhove-Kalergis Paneuropa-Buch sowie einen Roman von Jakob Wassermann. Geplant war ein längerer Aufenthalt in St. Moritz, Celerina und Pontresina à deux mit einer kurzen Rundreise in der vorgelagerten alpinen Region des Kantons Graubünden. Als Schnitzler am 15. August nach ruhiger Bodenseefahrt von Friedrichshafen aus bei St. Gallen Schweizer Boden betrat, sollte Ruhe und Beschaulichkeit einkehren, so meinte er zumindest.

Mit Clara Katharina Pollaczek, die aus Wien kommend seine Wege kreuzte, reiste er in die Kantonshauptstadt Chur. Die Autorin, die unter dem Mädchennamen Loeb und Pseudonymen schon Hofmannsthal beeindruckt hatte, war zwischenzeitig verwitwet und Mutter zweier Kinder. Ihr Sohn Karl heiratete 1925 die Komponistentochter Magda Wellesz, und Schnitzler kam in die Währinger Lutherkirche zur Trauung, bei der er die Kunsthistorikerin Dr. Emmy Wellesz, Mutter der Braut, traf. Schnitzler schenkte dem Brautpaar Gartenmöbel.

Die steilste Bahn der Schweiz

Gemeinsam mit der 48-jährigen Clara bestieg er nun in Chur eine Garnitur der Rhätischen Bahn und ließ sich von den roten Aussichtswagen der steilsten Adhäsionsbahn der Schweiz bis nach Arosa bringen. Die Auffahrt dauerte eine Stunde, der Ausblick zur Schatzalp und in die Bündner Bergkulisse bis hin zum Montafon im Norden und dem Tödi im Süden sorgte für Erbauung.

Das Mittagsmahl nahm das Paar nach einem kurzen Spaziergang in Innerarosa auf 1850 Meter Seehöhe im Kurhaus ein. Schnitzler hatte Ansichtskarten von dort erhalten, als Katia Mann eine Tbc-Erkrankung in Arosa kuriert hatte. Auch Thomas Mann war dort und schrieb am Zauberberg, den er aber in das Nachbartal des Schanfigg, in den Prättigau mit den Kurorten Klosters und Davos verpflanzte. Der Lübecker, der mit Schnitzler ein gutes Verhältnis hatte, wenn auch jenes zwischen dem Wiener und Heinrich Mann noch inniger war, schildert die Erlebnisse im Sanatorium Schatzalp, den gleichnamigen Berg sah der Reigen-Autor vom Zug und vom Kurhaus aus deutlich vor sich. Erst vor wenigen Jahren wurde eine Seilbahn demontiert, die zur Schatzalp pendelte, die einen per Auto nicht überquerbaren Pass zwischen den beiden Tälern markiert.

Man reiste nach St. Moritz und Celerina in den Engadin weiter, wo Schnitzler im Hotel Margna abstieg. Einige Tage später hatte er dort eine Begegnung mit dem niederländischen Autor Frans Mijnssen, der hauptsächlich juristische Bücher publizierte, aber auch als Kunstmäzen tätig war. Mijnssen urlaubte mit Gattin und Sohn und lud Schnitzler nach Amsterdam, Den Haag und Rotterdam sowie Leyden ein, um dort aus seinen Werken zu lesen – eine Einladung, die der Autor gerne annahm.

Obwohl es öfters heißt, dass Schnitzer den Großteil seines Lebens in Wien verbracht hat, reiste er doch viel. Vor allem im Alter entkam er zu seinen Geburtstagen gerne dem Rummel, zuletzt war er im Mai in Kopenhagen gewesen, wo ihn die Autorin Karen Stampe-Bendix betreute. War er in Berlin, konnte er sich mit Dora Michaelis, einer Tochter aus der kinderreichen Speyer-Familie, treffen, die einen Patentanwalt geheiratet hatte, aber über ihre drei Schwestern alles aus Wien wusste; darunter war mit Paula Wassermann, geborene Speyer, auch eine unglücklich verlassene Autorin, welche die gute fachliche Meinung, die Schnitzler über Jakob Wassermann (Der Fall Mauritius, Christian Wahnschaffe) hatte, geringfügig ankratzte. Dennoch bewahrte sich Schnitzler ein unabhängiges Urteil über den produktiven Thomas-Mann-Freund aus bayerischen Tagen.

Die Rolle der "Frau Schnitzler"

Zunächst verlief der Urlaub erholsam und nach Plan, und Clara Katharina Pollaczek schien in der Rolle der "Frau Schnitzler" zufrieden, doch zogen bereits Unwetterschwaden am Horizont auf. Eine zweite Ehe wollte der Autor nicht, weder nach innen noch außen. Die einzige Frau, die diesen Namen zwei Jahrzehnte offiziell getragen hatte, war bekanntlich Olga Schnitzler, geborene Gussmann, die Mutter der beiden Kinder Heini und Lili.

Nach zwei Jahren intensiver Streitigkeiten und Eifersüchteleien – Schnitzler konnte es nicht verwinden, dass seine Gattin ihm untreu geworden war, obwohl er selbst Frauenbekanntschaften gepflegt hatte, zudem scheiterte Olgas neu aufgesetzte Gesangskarriere als Solokünstlerin – hatte die bürgerliche Ehe im Jahr 1921 ihr Ende gefunden. Schnitzler überreichte den Scheidungsbrief im Juni dieses Jahres bei einem Rabbiner in München, nach dem rituellen Akt wurde die Ehe sodann in Wien zivilrechtlich geschieden; dass ein Rechtsanwalt für beide Partner hiezu ausreichte, ist vielsagend – das Ehepaar hatte sich geeinigt, nur der Zank und die Eifersüchteleien waren mit dem Gerichtsurteil noch lange nicht beendet.

Gegenüber Clara Pollaczek, die ihm als Begleiterin angenehm war und die mit Schnitzler zahlreiche Ausflüge, in Wien aber vor allem Kino- und Restaurantbesuche unternahm, betonte der Autor mehrfach, mitunter auch in sehr direkter, ja verletzender Weise seine Unabhängigkeit und Handlungsfreiheit als Junggeselle.

Kaum in Celerina angekommen, drohte bereits Unbill in Form eines Telefonats mit der 28-jährigen Bankangestellten Hedy Kempny, die schon in Baden-Baden durch einen Expressbrief an Olgas Eifersuchtssaite gezupft hatte.

Nun aber schien es, als ob das kaum begonnene Schweizer Idyll von Clara durch die im nahen Churwalden einquartierte Schnitzler-Bekannte aus Wien gestört werden könnte. In einem Typoskript, das in der Wien-Bibliothek aufliegt und auch digitalisiert wurde, ist nachzulesen, dass die begabte Autorin ihr Verhältnis zu Schnitzler als Liebesbeziehung einstufte und mitunter "Schmerzen" litt, wie sie offen einbekannte. Ihr männlicher Widerpart aber betonte, dass er zwar erotische Momente mit Clara erlebt hatte, ansonsten aber meist recht kühl blieb und vor allem Eifersüchteleien, wie er sie von Olga gewohnt war, fürchtete.

In Sachen Seelenschmerz

Hedy Kempny hingegen vergoss zwar auch die eine oder andere Träne, etwa als sie 1930 von der letzten Liebe des Autors zu Suzanne Clauser erfuhr, sie erwies sich aber als selbstbewusste und moderne Frau, die sich nicht in eine Nebenrolle drängen ließ.

Im Jahr 1919 hatte sie eine persönliche Tragödie erlebt, als ihr Verlobter Wolfgang von Miklosich in Wladiwostok an Grippe verstorben war. Zwecks Bewältigung der inneren Leere hatte sie brieflich Kontakt zu Schnitzler aufgenommen, den Ratsuchende in Sachen Seelenschmerz offenbar für einen Experten hielten. Seit ihrer ersten Begegnung mit dem Autor in der Sternwartestraße (nicht in der Villa, sondern am Gehsteig, wie zu betonen ist) begleitete ihn die sportliche Bankangestellte meist durch den Wienerwald und Parkanlagen, später besuchte sie ihn auch zu Hause.

Durch freizügige Schilderungen ihres Liebeslebens, aber auch mit einem starken Unabhängigkeitsgeist hatte sie sich Respekt verschafft und Schnitzlers Zuneigung erworben.

Diesmal aber schien das Zusammentreffen unter einem dunklen Stern zu stehen. Sie traf den Autor im Cresta Palace, man zog es vor, nicht vor den Augen von Clara Katharina Pollaczek zu defilieren. Aus Hedy Kempnys Aufzeichnungen geht hervor, dass Schnitzler sie dringend ersuchte, vor Ort möglichst nicht die gemeinsamen Wege von ihm und der Lebensgefährtin Clara zu kreuzen. Das gelang offenbar. Ein gemeinsamer Ausflug stand am 26. August 1923 an, Schnitzler und Hedy durchwanderten das Valsuver Tal, wo sie gemeinsam in einer Wiese lagen. Die betörende Alpenflora tat ein Übriges, und Hedy nahm ein Sonnenbad, das sie mit den Worten "Ich wusste, wie sehr er es wünschte" kommentiert hat.

Das heimliche Treffen bedeutete auch für Hedy Kempny, die damals mit dem Schweizer Juristen und Lyriker Walter Pfund liiert war, ein Erlebnis, aber letztlich wollte sie nicht die zweite Geige im Engadin spielen. Beruflich stand die Tochter des begabten, aber früh verstorbenen Mediziners Dr. Peter Kempny, der nebenbei als Komponist hervorgetreten war, auf eigenen Beinen, wenn auch das selbst verdiente Geld kein Luxusleben ermöglichte. Als Angestellte der Niederösterreichischen Escompte-Anstalt am Hof in Wien war sie beliebt, ja begehrt, ein Mitarbeiter, den sie als den "Kassen-Mann" anonymisierte, lud sie häufig ein und gestand ihr seine Zuneigung.

Ich reise heute noch ab!

Hedy, deren Vater als Arzt in Gutenstein eine Kur- und Badeanstalt betrieben hatte, war schlank und sportlich, sie lernte in der Tanzschule "Luca" Rhythmik und Ausdruckstanz, trat auch öffentlich mit den neu erworbenen Fertigkeiten auf. Schon als Jugendliche hatte sie Gesangs- und Schauspielunterricht genommen, die Banktätigkeit war nur eine Episode. Fähigkeiten als Journalistin stellte sie beim St. Galler Tagblatt und später in den USA unter Beweis, wohin sie in der NS-Ära emigrierte.

Noch in Wien, im Jahr 1927, ließ sie sich im Atelier Adèle vom Fotografen E. Forster porträtieren.

Am 27. August 1923 schrieb sie Schnitzler einen kurzen Brief, den sie in seinem Hotel in Celerina hinterließ: "Arthur, ich reise heute noch ab, ich habe eine elende Nacht gehabt und vormittag hat mich Walter angerufen. Vielleicht geht es nach Genf, vielleicht nach St. Gallen – Dir dank ich von ganzem Herzen für diese schönen Tage – und auf ein gutes Wiedersehen in Wien!

Ja die Seele ist ein weites Land … Und ich weiß, dass Du mich verstehen wirst."

Der Autor nahm es hin und wandte sich wieder der Begleiterin Clara und den anderen Kurgästen zu. Zwischenzeitig war sein Wiener Nachbar Richard Beer-Hofmann mit Gattin eingetroffen, man erkundete die Innschlucht, und auf dem Ausflugsberg Muottas Muragl notierte Schnitzler nur ein einziges Wort: "Melancholie". (Gerhard Strejcek, 29.7.2023)

Schnitzler
Von 3. März 1879 bis zwei Tage vor seinem Tod im Oktober 1931 führte Arthur Schnitzler ein Tagebuch: Werner Welzig (Hg.), Arthur Schnitzler, "Tagebuch (1879–1931). Gesamtausgabe". 4497 Seiten. Verlag der Österr. Akademie der Wissenschaft, 1986
Verlag der österreichischen Akademie der Wissenschaft