Global gültige Normen haben manchmal sehr lokale Ursprünge. So auch im Staats- und Völkerrecht des 20. Jahrhunderts. Hier stellten sich nicht nur nach dem Ersten Weltkrieg delikate Fragen der Rechtsnachfolge von Staaten: In welchem Verhältnis standen die Republik Deutschösterreich und Ungarn zur untergegangenen Monarchie? Nach dem Zweiten Weltkrieg ging es erneut darum, welche Rechte und Pflichten jene aufstrebenden Nationen besaßen, die die Fremdherrschaft der Kolonialmächte abgeschüttelt hatten. Die in Princeton lehrende Historikerin Natasha Wheatley zeigt in ihrem kürzlich auf Englisch erschienenen Buch The Life and Death of States: Central Europe and the Transformation of Modern Sovereignty, wie stark dabei auf Ideen aus der Habsburgermonarchie zurückgegriffen wurde.

Natasha Wheatley
Natasha Wheatley verbindet Recht, Politik und Geschichte.
Princeton University

Wheatley meint, es sei kein Zufall, dass die moderne Welt des 20. Jahrhunderts immer wieder auf österreichisch-ungarische Erfahrungen abstellte. Denn ostmitteleuropäische Juristen hatten ab der Mitte des 19. Jahrhunderts ein Instrumentarium entwickelt, das auch auf spätere globale Probleme differenzierte Antworten geben konnte: Habsburg war mit seinen Verfassungsexperimenten und seiner Rechtsphilosophie ein Laboratorium der modernen juristischen Welt. Schon bei den Debatten um die ersten österreichischen Konstitutionen von 1848/49 prallten Standpunkte aufeinander, die sowohl in ihren Herausforderungen als auch in juristischen Lösungen musterhaft waren.

Rechtskontinuität

Der Streit um die legitime Souveränität in der multinationalen Monarchie brachte nicht nur die Rechte ethnisch-sprachlich konstruierter "Völker" zu Gehör. Ihnen gegenüber standen adlige Eliten anderer Reichsteile wie die Ungarn, die sich unter Verweis auf ihr "historisches Staatsrecht" dagegen wehrten, von der Wiener Zentrale vereinnahmt, homogenisiert und ihrer Autonomie noch weiter beraubt zu werden.

Ähnlich argumentierten bald 100 Jahre später die Politiker und Juristen des Globalen Südens, die die Interessen ihrer Nationen gegenüber den ehemaligen Kolonialmächten vertraten: Unser Anspruch auf souveräne Staatlichkeit ist legitim, und er ist keineswegs neu entstanden! Im Gegenteil: Die Juristen aus Indonesien, Algerien und Indien behaupteten historische Rechte, die durch die koloniale Fremdherrschaft nur vorübergehend verdrängt worden sind, und jetzt lediglich reaktiviert werden mussten. Schon hier zeigt sich, dass Fragen von Rechtskontinuität immer eminent politisch waren und sind. Die juristischen Kategorien und logischen Systeme, in denen sie verhandelt werden, bleiben menschliche Schöpfungen, hinter denen konkrete Erfahrungen und Interessen standen. Unsere Abstraktionen, so Wheatley, sind stark kontextabhängig. Sie werden von Menschen entworfen, denen sie als plausible und gerechte Lösungen für die von ihnen wahrgenommenen Probleme erscheinen. Im Wien des Fin de Siècle und der Zwischenkriegszeit waren das Juristen wie Georg Jellinek und Hans Kelsen, inspiriert vom Wiener Kreis. Dass die von ihnen gewählten Zugänge auch jenseits des habsburgischen Mitteleuropa und bis in die Gegenwart taugen, nationale Souveränität, imperiale Staatennachfolge und das Selbstbestimmungsrecht von Indigenen aufzuschlüsseln, spricht für ihre analytische Qualität. Es zeigt aber auch, dass die Landkarte des modernen Völkerrechts womöglich stärker von jenem innerimperialen Recht geprägt ist, als bisher bekannt war.

Anregende Lektüre

Wheatley hat eines der anregendsten Bücher der letzten Jahre im Bereich des Rechts, der Politik und Geschichte geschrieben. Sie beginnt ihre Erzählung in jenem Moment, da in Österreich über moderne Verfassungen gestritten wurde, befeuert von einer gemeineuropäischen Revolutionsbewegung, die noch der Kremsierer Reichstag abwehrend umarmen wollte.

Ob hinter diesen Ideen pluraler Souveränität um 1848 womöglich noch ältere Prägungen der Vormoderne liegen, wäre durchaus zu vermuten. Denn auch vor 1800 – etwa im Heiligen Römischen Reich – waren historische Rechtsansprüche immer wieder zu verteidigen, die sich keineswegs von fürstlichen Ansprüchen auf Zentralisierung beseitigen lassen wollten. Womöglich ähnelt sich hier ein weiteres Mal die Unübersichtlichkeit der vormodernen mit jener der postmodernen Welt. (Miloš Vec, 30.7.2023)

Natasha Wheatley, "The Life and Death of States: Central Europe and the Transformation of Modern Sovereignty". € 47,99 / 424 Seiten. Princeton University Press, Princeton 2023
The Life & Death of States: Princeton University Press