Seit Anfang der 1990er-Jahre gibt es die Väterkarenz, die heute nur zwei von zehn Vätern nützen.
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Ingrid Moritz war 32 Jahre für die Arbeiterkammer (AK) Wien für zentrale frauenpolitische Themen verantwortlich. Passiert ist in dieser Zeit viel, doch auch die Widerstände gegen konkrete Maßnahmen für Frauen in Österreich sind nach wie vor stark. Ingrid Moritz kennt die frauenpolitischen Entwicklungen in Österreich besonders gut und weiß, warum der Handlungsbedarf in vielen Bereichen noch immer so groß ist wie vor 30 Jahren.

STANDARD: Sie waren gut 30 Jahre in der Arbeiterkammer für Frauen- und Familienpolitik zuständig. Was waren damals, vor 30 Jahren, wesentliche Errungenschaften?

Moritz: Als ich angefangen habe, wurde gerade die Väterkarenz eingeführt. Damals war ich als Beraterin tätig, und es war für alle ein absolutes Novum, dass Väter in die Beratung kamen. Besonders wichtig war auch, dass sexuelle Belästigung ins Gleichbehandlungsgesetz gekommen ist. Ich kann mich noch gut erinnern, wie das damals von vielen belächelt wurde – heute wissen wir, was für ein Riesenthema das ist.

STANDARD: Jahrzehnte später ist die Väterbeteiligung aber noch immer sehr niedrig. Acht von zehn Vätern gehen nicht in Karenz. Sind Männer als Zielgruppe familienpolitischer Maßnahmen übersehen worden?

Moritz: Natürlich ist es wichtig, Väter zu adressieren. Aber ihre niedrige Beteiligung an Karenzen ist vor allem das Ergebnis dessen, dass immer halbherzig auf "Wahlfreiheit" gesetzt wird. Halbe-halbe muss man aktiv gestalten. Ich glaube, mit diesen freiwilligen Maßnahmen kommt man nicht weit. In einem so konservativen Land wie Österreich muss immer alles freiwillig sein, wenn es um die Teilung der Familienarbeit geht. Doch wenn zum Beispiel mehr Karenzmonate für Männer reserviert wären, hätten sie in Unternehmen auch eine andere Verhandlungsmacht und könnten sagen, dass sie diese Monate nicht verlieren wollen.

Bei der Kinderbetreuung ist es dasselbe. Wir haben heute sogar die Situation, dass Frauen mit einem Kind mit einer Behinderung keinen Platz kriegen und sie ihre Erwerbstätigkeit tatsächlich aufgeben müssen, das ist einfach unglaublich.

Ingrid Moritz ist Expertin für Frauen- und Familienpolitik und noch bis Ende August Leiterin der Abteilung
Ingrid Moritz (1963) ist Expertin für Frauen- und Familienpolitik und noch bis Ende August Leiterin der Abteilung "Frauen – Familie" in der Wiener Arbeiterkammer. 2010 wurde ihr der Wiener Frauenpreis verliehen.
Lisi Specht

STANDARD: Beim Zugang zu kostengünstiger und ausreichender außerfamiliärer Kinderbetreuung ist das Stadt-Land-Gefälle in Österreich groß. Warum verkleinert sich dieses seit Jahren kaum?

Moritz: Das hat wieder mit den fehlenden Rechten zu tun, etwa auf einen Kinderbetreuungsplatz. Aber auch mit der Mobilität. Während der Pandemie ist im ersten Winter die Arbeitslosigkeit der Frauen in den westlichen Bundesländern irrsinnig hochgeschnellt. Der Tourismus lag brach, und es hat sich gezeigt, dass Frauen einfach zu wenige Spielräume am Arbeitsmarkt haben: Entweder ist der Beruf ganz in der Nähe vom Wohnort – oder die Erwerbstätigkeit ist einfach nicht möglich. Außerdem müssen Gemeinden dann auch Arbeitsplätze haben, wenn Kinderbetreuung vorhanden ist. Es sind also Probleme auf mehreren Ebenen, von denen viele nicht gelöst sind.

Ein Gefälle gibt es aber auch in den Diskussionen: In Wien debattiert man wahrscheinlich eher die Vielfalt der Geschlechter, während man auf dem Land darüber redet, ob es überhaupt eine Väterbeteiligung braucht oder wie wichtig letztlich doch die Mutter fürs Kind sei. Auch da haben wir also eine große Kluft.

STANDARD: Sie haben 2011 das Einkommenstransparenzgesetz mitverhandelt, das inzwischen viele als zahnlose Maßnahme gegen die Lohnschere bezeichnen.

Moritz: Wir sind hier steckengeblieben. Damals sind wir davon ausgegangen, dass wir damit zumindest einmal eine Basis haben, auf der wir dann aufbauen können. Die Verhandlungen dazu waren schon wahnsinnig mühsam. Wir wollten natürlich echte Transparenz und dass die Einzelne tatsächlich Einblick in die Einkommensberichte nehmen kann, nicht nur der Betriebsrat. Dagegen hat sich die Wirtschaft sehr gewehrt. Die Politik greift das Thema heute gar nicht mehr auf. Doch mit der Richtlinie der EU zur Lohntransparenz muss nun der nächste Schub kommen – bisher sind wir bei der Einkommenstransparenz ja anders nicht weitergekommen.

Letztlich hat in Österreich immer der Grundkonsens dazu gefehlt. Doch anstatt die Lohnschere schließlich zu wollen, ging es schnell darum, wie groß sie nun tatsächlich ist. Es wurde nicht darüber gesprochen, wie wir sie schließen, sondern darüber, ob sie überhaupt der Rede wert ist. Das ist ein generelles Manko in der Frauenpolitik: Ein Teil will, der andere nicht.

STANDARD: Seit 2011 ist der Gender-Pay-Gap bei den Bruttostundenlöhnen von 23,5 auf 18,8 im Jahr 2021 gesunken. 4,7 Prozent sind doch gar nicht schlecht, oder?

Moritz: Nicht jede Veränderung bei der Lohnschere hängt mit einer Verbesserung der Gehälter von Frauen zusammen. Wir hatten – auch pandemiebedingt – große Verschiebungen am Arbeitsmarkt, und sobald Männer aus gutbezahlten Jobs rausgehen, verringert das auch die Einkommensschere, ohne dass es für Frauen eine Verbesserung wäre.

STANDARD: Haben in den letzten Jahrzehnten die Frauen selbst ihre Rechte zu wenig genutzt und ihre neuen Handlungsmöglichkeiten womöglich zu wenig ausgeschöpft?

Moritz: Natürlich können Frauen etwas tun, aber wir sehen zum Beispiel an den arbeitsrechtlichen Beratungen: Die meisten Klagen kommen, wenn das Dienstverhältnis beendet ist. Sicher ist es wichtig, Frauen zu ermutigen, ihre individuellen Rechte zu nutzen, und Frauen zu stärken. Aber wenn man nur darauf setzt, übersieht man das Machtgefälle. Wenn es einen Arbeitsmarkt gibt, wo es mir möglich ist, einfach das Unternehmen zu wechseln, wenn mir was nicht passt, kann man Rechte auch anders ausschöpfen.

STANDARD: Nach der gesetzlichen Gleichstellung in den 1970er-Jahren kam bald ein Art Karriereversprechen für Frauen auf, und die Idee von "Karrierefrauen" wurden in den 1980er- und 1990er-Jahren sehr stark verbreitet.

Moritz: Erst einmal muss man sagen, dass es die Möglichkeit einer Karriere für viele gar nicht gegeben hat, da wurde mit sehr vielen Klischees gearbeitet. Heute bröckelt diese Vorstellung von Karriere aber bei Frauen und Männern, die nicht mehr Fulltime arbeiten wollen, sondern auch etwas vom Leben haben wollen. Auch durch viele junge Menschen entsteht Druck in Richtung Arbeitszeitverkürzung.

STANDARD: Über frauenpolitische Maßnahmen wird oft über Jahrzehnte debattiert – und letztlich gibt es sie oft dennoch nicht oder in sehr zahmer Form. Warum? Die Zahlen liegen doch seit vielen Jahren auf dem Tisch.

Moritz: Die Rolle von Zahlen hat sich in letzter Zeit sehr verändert. Die Kraft der Zahlen hat stark abgenommen, und sie werden immer stärker relativiert. Das sehen wir beim Gender-Pay-Gap. Da werden zum Beispiel immer wieder Faktoren wie die Berufswahl rausgerechnet, obwohl in der unterschiedlichen Bewertung von Arbeit auch Diskriminierung steckt. Im Umgang mit Zahlen gibt es heute sehr viel Beliebigkeit. Deshalb ist es wichtig, Statistiken mit persönlichen Geschichten zu verknüpfen, mit Lebenssituationen, die jeder Mensch kennt, so können die Themen wieder mehr Kraft bekommen. (Beate Hausbichler, 29.7.2023)