L'Immensita
Penélope Cruz tanzt in der Fantasie ihres Kindes zu Italopop-Hits.
© Luna Filmverleih

Eine Liebeserklärung an die Mama und die Musik. Was könnte Italien mehr einfangen als das? Und doch spielt in Emanuele Crialeses L’immensità – zu Deutsch "Die Unermesslichkeit" – die Spanierin Penélope Cruz die Rolle der italienischen Mutter. Ihre Carla ist eine tragische Schönheit, das sieht man vom ersten Moment an, in dem die Kamera das einzigartige Profil der Schauspielerin in Szene setzt. Mit der voluminösen Hochsteckfrisur und den schwarz umrandeten Augen erinnert sie dabei nicht nur an eine, sondern an viele der Rollen, die sie bei Pedro Almodóvar jemals verkörpert hat – von Volver bis Leid und Herrlichkeit.

Dabei hat Cruz erst kürzlich ihr Rollenrepertoire aufgesprengt, als sie in der wunderbaren Satire Der beste Filmaller Zeiten von Mariano Cohn und Gastón Duprat die verrückt-narzisstische Regisseurin Lola Cuevas gab. Mit abstrakter Frisur und ganz ohne mütterliche Wärme.

Der Archetyp der Mutter

Nun ist sie wieder ins Fach der archetypischen Mutter und somit ins Drama gewechselt. Sagenhaft schön ist sie dazu. Das wirft ihr auch ihre Filmtochter Adri (toll und vielseitig: Luana Giuliani) vor, als sie ihre Mutter vom Friseur abholt. Die Frisur sitzt, zwei Männer werden aufdringlich, und während Clara sich in der lang erprobten Kunst des Ignorierens übt, geht Adri in die Konfrontation und brüllt die Männer an. Beim Zusehen weiß man, dass Adri es richtig macht.

Adri heißt Adriana und ist so ganz anders als ihre Mutter Clara. Sie fühlt sich im falschen Körper und nennt sich lieber Andrea (ein Name, der im Italienischen bekanntlich männlich ist). Gemeinsam mit ihren kleinen Geschwistern, ein pummeliger Bub und ein süßes Mädchen, spielt die etwa Zwölfjährige gern im Schilf hinter ihrem modernen Wohnbau. Dort stoßen die Kinder eines Tages auf die Baracken der Arbeiterfamilien. In eines der dort lebenden Mädchen verguckt sich Adri, und eine unschuldige Liebesgeschichte entspinnt sich.

L'Immensita
Adri (Luana Giuliani) mit ihren Geschwistern.
© Luna Filmverleih

Die Welt hinter dem Schilf lässt diejenige von Adris Familie umso luxuriöser wirken. Der Ausblick vom neuen Balkon auf die Stadt ist fantastisch. Die Sommer werden mit der Großfamilie in einer Villa am Meer verbracht, Weihnachten feiert man an einer festlichen Tafel im Palazzo der Nonna. Es ist auch eine verlorene Welt, die Crialese hier in Szene setzt. Schon allein deshalb, weil sie im Rom der 1970er-Jahre spielt. Der obligate Analog-Look mit kräftigen Orange-, Blau- und Rottönen gehört hier ebenso dazu wie die verstaubten Geschlechterbeziehungen.

Adris Vater ist der Typus Mann, der nie genug hat. Ein vermögender Schwerenöter aus gutem Hause, der seine junge Sekretärin schwängert und von seiner Frau stets das Erfüllen der ehelichen Pflichten verlangt. Als Clara nicht mehr spurt, hängt der Haussegen schief. Aber auch viel mehr als das, denn Clara hat schwerwiegende psychische Probleme. Diese sind etwas schöngefärbt inszeniert. Das liegt wohl an der kindlichen Perspektive, an der rosa Brille, die Adri trägt, sobald sie ihre Mutter betrachtet. Claras Probleme zeigen sich nämlich darin, dass sie mit den Kindern ausgelassen spielt, tanzt und singt. Am liebsten zum Italopop der Ära, der in L’immensità zahlreich vertreten ist. Denn in den Momenten, in denen die Familie funktioniert, sitzt sie gemeinsam vor dem Fernseher und sieht sich die Hitparade an.

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Verrückt nach Italohits

Regisseur Emanuele Crialese, der seit Filmen wie Lampedusa (2002) oder Nuovo Mondo (2006) auf Festivals und beim Publikum Erfolge feiert, hat mit L’immensità eine autobiografische Geschichte inszeniert. Kurz vor dessen Premiere am Filmfestival in Venedig hat sich der Regisseur als Transmann geoutet. Die Wärme, die Liebe zur idealisierten Mutter, der kindliche Blick auf die Kultur der 1970er-Jahre, das liebevoll gestaltete Kinderzimmer: Alles ist da und hat viel Herz.

Aber selbst wenn in der kindlichen Fantasie Mutter und Tochter respektive Sohn als Adriano Celentano und Patty Pravo oder Johnny Dorelli und Raffaella Carrà Duette singen – so ganz überträgt sich das Herz des Films nicht auf sein Publikum. Die Geschichte rund um Geschlechterkampf, Transthematik und psychische Gesundheit wirkt dann doch schon abgegriffen. Und wenn dann ein Polster in der Wohnung wie der eigene von Ikea aussieht, dann ist der Zauber vollends passé. (Valerie Dirk, 29.7.2023)