Bei Familie Hammerle beginnen die Tage früh. Kurz nach vier Uhr, noch bevor sich die Morgendämmerung über die steilen Bergflanken legt und die ersten Sonnenstrahlen den Morgentau auf den Weiden zum Glitzern bringen, startet ihr Arbeitstag. Ewald Hammerle schlüpft in seine mit Kuhleder überzogenen Holzpantoffeln, seine 20 "Mädls" warten auf ihn, mit prallen Eutern. Im Stall wird gemolken, rund 170.000 Liter Milch geben die Kühe pro Jahr, es ist die Lebensgrundlage von Hammerle.

Es geht bergab

Der Senner und Vater zweier kleiner Kinder ist 33 Jahre alt und am elterlichen Hof in Steeg im Tiroler Lechtal aufgewachsen. 661 Personen wohnen dort, der dreistöckige Hof liegt etwas außerhalb. "Hof Hammerle" steht in geschwungener Schrift auf einem Wandbild. Petunien und Geranien schmücken Balkone und den Eingangsbereich. Alle vier Generationen sind in die landwirtschaftliche Arbeit eingebunden, man hilft zusammen.

Ein Bauer und seine Kuh
Bauer Ewald Hammerle mit einer seiner "Mädels".
Max Schorch

Hammerle gehört zu den wenigen, die heute noch von ihrer Arbeit am Hof leben können. Vor allem die kleinen Betriebe müssen aufgeben, bestätigt er. Auch aktuelle Zahlen zeigen: Es gibt immer weniger Landwirte in Österreich, aktuell werden 109.808 bäuerliche Betriebe bewirtschaftet. Zum Vergleich: 1995 gab es noch 192.793 Bauernhöfe, fast doppelt so viele. Innerhalb eines Jahres ist die Zahl der Höfe um 1009 gesunken. Dies geht aus den aktuellen Förderdaten der Agrarmarkt Austria (AMA) hervor. Bergab ging es auch mit dem Biosektor, die Zahl der Biobetriebe sank bundesweit um 2,5 Prozent auf 22.730.

Regional ist das neue Bio

Auch der Hof der Hammerles war einst ein Biobetrieb. Nun wirtschaften sie eigentlich immer noch biologisch, aber das Zukauffutter ist konventionell. Bio, das bedeute für den Betrieb "mehr Bürokratie, mehr Kontrolle, mehr Kosten, geringerer Ertrag", ohne dass sich die Qualität verändere, erklärt der Bauer. Auch viele umliegende Betriebe im Lechtal würden sich nicht mehr mit dem Biosiegel schmücken. Ohnehin sei "Regional" heute das "neue Bio", ist Hammerle der Meinung. Dass die Menschen wüssten, wo die Produkte herkommen, das sei, "was heute wirklich zählt".

Ein Bauernhof vor einer Bergkulisse
Familie Hammerle bewirtschaftet eine Grünfläche von rund 20 Hektar in Steeg im Tiroler Lechtal.
Max Schorch

Das Bundesland mit dem höchsten Bioanteil ist Salzburg. Bisher rühmte sich Salzburg damit, dass die Hälfte aller Bauern ihre Höfe biologisch bewirtschaften. Nun könnte der Anteil bei nur noch 45 Prozent liegen, schätzt der Geschäftsführer von Bio Austria Salzburg, Andreas Schwaighofer.

Düstere Prognosen

Im März sahen die Prognosen jedenfalls düster aus: In Salzburg und Tirol dürfte jeder zehnte Biobauer ausgestiegen sein, wirtschaftet nun wieder konventionell oder hat sich komplett vom Acker gemacht. Den Rückgang führt eine Sprecherin der Landwirtschaftskammer Tirol unter anderem auf das Auslaufen von Förderungen im Jahr 2022 zurück. Ferner seien Auflagen verschärft worden, die Bürokratie habe zugenommen.

Schwaighofer sieht die Regierung in der Pflicht, bürokratische Hürden abzubauen. Viele Auflagen würden aus dem Gesundheitsministerium kommen, weil das Biorecht beim Konsumentenschutz angesiedelt sei. Hier gebe es große Ansichtsunterschiede, was nötige Bürokratie sei. Bio Austria versuche Hilfsmittel wie digitale Antragsformulare zur Verfügung zu stellen. Dass Bio in der Krise sei, will Schwaighofer nicht gelten lassen. In Österreich sei der Biokonsum nicht zurückgegangen, auch nicht in Zeiten der Corona-Krise.

Frisches Geld

Als "zielführend" beurteilt er das geplante Bio-Aktionsprogramm des Landwirtschaftsministeriums. Vor allem bei der Markterschließung und den Weiterbildungs- und Beratungsmaßnahmen ortete er viele sinnvolle Maßnahmen. Unterstützungsmaßnahmen für die Biolandwirtschaft im Ausmaß von rund 550 Millionen Euro jährlich stehen zur Verfügung. Bis 2027 sollen so 30 Prozent der Flächen in Österreich biologisch bewirtschaftet werden. Derzeit sind es 26 Prozent.

Holzpantoffel und ein gelber Gartenschlauch
Ewald Hammerle in seinen Arbeitsschuhen. Die Arbeit am elterlichen Hof ist fordernd, die Tage beginnen früh, und Auszeiten gibt es kaum.
Max Schorch

Ewald Hammerle stapft über die Weide, auf der seine Kühe grasen. Seine Familie bewirtschaftet rund 20 Hektar Grünflächen. Er kennt alle seine Kühe beim Namen, erzählt von bestimmten Charakterzügen. Immer wieder bückt er sich, reißt Grasbüschel aus. Gezielt greift er nach Hahnenfuß, Kümmel und Bärenklau – Pflanzen, die die Kühe stehen lassen. Seine Familie dünge im Tal noch mit Festmist ausschließlich im Herbst, damit im Sommer keine Düngerrückstände im Gras und später in der Milch landen. Dem Heu im Tal wird Bergheu beigemischt. In der Höhe wird nur einmal jährlich gemäht. Die Bergkräuter verfeinern Milch und Joghurt, das Hammerle händisch in einem Verarbeitungsraum unweit des Stalls anrührt.

Joghurt in Handarbeit

Mit 14 Jahren stellt er die ersten Weichen für seinen späteren beruflichen Werdegang: Er springt als Ferialarbeiter bei einer nahegelegenen Sennerei ein und macht dort auch seine Lehre. Dann lernt er seine Frau Marina kennen, zieht zu ihr nach Vorarlberg, wo er in einer großen Sennerei seine Meisterprüfung ablegt.

In Marinas Küche entsteht der Prototyp dessen, womit die Familie heute ihr Geld verdient: Alpenjoghurt. 15 Liter hätten sie anfangs gekocht, zunächst für den Eigengebrauch, dann auch für Freunde. Im Frühjahr 2018 beginnt das junge Paar damit, einen Teil der Milch des elterlichen Hofs im Lechtal selbst zu verarbeiten. "Meine Milch fährt keinen Kilometer", sagt Hammerle stolz. Lebensmittel müssten wieder dort verarbeitet werden, wo sie entstehen, findet er. Er kümmert sich um die Produktion, seine Frau ist für Vertrieb und Marketing des Joghurts "Sennlich" zuständig.

Ein Mann füllt Joghurt ab
Ewald Hammerle füllt Joghurt ab. Mit dem Verkauf von Alpenjoghurt kann er zwei Familien ernähren, die Milch stammt von seinen 20 Kühen und fährt "keinen Kilometer", betont er stolz.
Max Schorch

Die kurze Zeit vom Melkvorgang bis zur Verarbeitung der Milch sowie speziellen Kulturen und die lange Ruhezeit von rund 16 Stunden sind die entscheidenden Faktoren, um das Joghurt ohne Konservierungsstoffe lange haltbar und somit auch bekömmlicher zu machen. Das Joghurt rührt Hammerle per Hand, im Schnitt viermal pro Woche.

Jede Woche produziert er bis zu 1000 Liter. Sonntagabend nimmt er Bestellungen von Pensionen und Gasthäusern im Umkreis entgegen. Davon abgesehen ist das Produkt in Automaten und Bauernläden im ganzen Bezirk und auch in Vorarlberg zu haben. Bäuerliche Betriebe unterstützen sich gegenseitig, erzählt Hammerle. So bestückt er Automaten auch mit Hühnerwürsteln und Rindkaminwurzen von zwei befreundeten Vorarlberger Bauern, die im Gegenzug sein Joghurt an Mann und Frau bringen.

Österreich als Insel der Seligen

In Lustenau in Vorarlberg, rund 80 Kilometer von Steeg entfernt, lebt Simon Vetter. Auch er arbeitet im Familienbetrieb, vor sieben Jahren hat er den Hof seiner Eltern übernommen. Seit über 300 Jahren bewirtschaftet seine Familie in Lustenau Boden. "Mittlerweile kann man die Leute, die hier in der Landwirtschaft tätig sind, an zwei Händen abzählen. Früher waren es hunderte", sagt er.

Ein Bauernhof mit Glashaus hinter einem Mohnfeld
Ein Blick auf den Vetterhof im Vorarlberger Lustenau. Seit über 300 Jahren bewirtschaftet Simon Vetters Familie dort Boden.
Kirstin Tödtling

Den Begriff "Bauernsterben" verwendet Vetter aber nicht, weil er doch sehr aufgeladen sei. "Man muss schon sehen, dass Österreich hier noch immer eine Insel der Seligen ist – und Vorarlberg im Speziellen. Den Strukturwandel, den andere Länder gesehen haben, den kennen wir hier nicht." Dass es noch immer kleinstrukturierte Betriebe gebe, die überleben können, sei eine Besonderheit.

Ausbeutung als Faktor

Aber ja, natürlich sei es ein Thema, dass Landwirte aussteigen und zu wenige Menschen gefunden werden, die in den Beruf einsteigen wollen. Das sei aber auch in vielen anderen Gewerben so – ob Müllerei, Metzgerei oder eben die Gastro. Dass die Landwirtschaft eine Sonderstellung hat, glaubt Vetter, der 2019 für die Grünen bei der Wahl zum EU-Parlament kandidierte, nicht. Überall gelte es eben, neue Modelle zu finden, denn die alten könne man nicht mehr so einfach in die heutige Zeit übersetzen. "Wenn ein System nur mit Ausbeutung von Leuten funktioniert – und damit meine ich auch die Selbstausbeutung, die in der Landwirtschaft groß ist –, dann haben wir ein Problem."

In den Urlaub fahren, Väterkarenz nehmen – das seien nur zwei Beispiele, die für Landwirte nur schwer und oft gar nicht möglich sind. Vetter fand einen anderen Bauern aus dem Ort, der für ihn während der Karenz einsprang.

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Vetterhofs posieren für ein Gruppenfoto
Die Arbeit im landwirtschaftlichen Betrieb – im Spannungsfeld zwischen Zusammenhalt und Einsamkeit.
Kirstin Tödtling

Die Verantwortung wiegt schwer. Die Übergabe von der einen auf die andere Generation, die Sorge, dass Eltern auch nach der Übergabe noch Mitreden wollen, manche Entscheidungen der Kinder vielleicht nicht ganz verstehen – auch das sei sehr wahrscheinlich oft eine Hürde, die viele Kinder nicht nehmen wollen, meint Vetter.

Einsamkeit wiegt oft schwer

Einsamkeit sieht er ebenfalls als Faktor in der Landwirtschaft. Es gebe Untersuchungen, wonach Landwirte besonders von Alkoholismus und Depressionen betroffen sind. Hier müsse es ein viel stärkeres Bewusstsein geben. Aber: Es tue sich etwas, und die Mittel für psychosoziale Hilfe würden derzeit aufgestockt, sagt der Bauer aus Lustenau.

Und was wäre noch zu tun, um die Landwirtschaft als Berufsfeld zu attraktivieren? "Die eine Lösung gibt es natürlich nicht", sagt Vetter. Aber wahrscheinlich müsse ein grundsätzliches Umdenken stattfinden, man müsse wegkommen von den Vorstellungen, wie Betriebe traditionell organisiert sind. "Im Trachtenjanker dazustehen und zu sagen, so ist es, weil so war es schon immer, das wird sich nicht spielen." Vetter engagiert sich deswegen auch bei Farmers for Future in Brüssel, wo an Ideen für die Landwirtschaft der Zukunft gearbeitet wird.

Neue Modelle gefordert

Der Vorarlberger denkt etwa an ein Modell: "Landwirt auf Zeit". Immerhin gebe es ja grundsätzlich eine wachsende Gruppe, die sich für Themen der Landwirtschaft interessiere. "Man ist ja hier an vielen spannenden Schnittstellen: Klimawandel, Bodenverbrauch, Ernährung. Kurse an den Landwirtschaftsschulen boomen nicht umsonst." In Österreich gibt es viele Familienbetriebe. Künftig müsse man sich stärker mit den "Quereinsteigern" beschäftigen, sagt Simon Vetter. Er selbst habe derzeit genug Leute, ein jüngerer Bruder steige gerade ein.

Konsumentinnen und Konsumenten vor einer Reihe Gemüsekisten
Kreativität gefordert: Den Vetterhof kennt man in Vorarlberg auch von den Gemüsekisten.
Kirstin Tödtling

In Lustenau kennt man den Hof nicht nur wegen der Gemüsekisten, die wöchentlich geliefert werden. Vetter öffnet den Hof auch immer wieder für Veranstaltungen, im Hofladen gibt es neben den Produkten vom Hof auch selbstproduzierten Alkohol, Saucen, Pestos oder Sirup. Es gibt Kräuterkranzbindeworkshops oder Exkursionen auf die Felder. Employer Branding geht auch auf dem Bauernhof.

"Wellness" für die "Mädls"

Von neuen Ideen und unkonventionellen Zugängen spricht auch Hammerle. Gleichzeitig seien es die Ursprünglichkeit und die Naturverbundenheit, die er besonders hochhalte. Wenn er von seinen Tieren und der Arbeit auf dem Hof spricht, ist seine große Hingabe, die es wohl braucht in diesem Job ohne Wochenende und Ferien, zu spüren. Im Winter steht dreimal pro Tag der Gang in den Stall an. Dabei werden die Liegeboxen kontrolliert, ausgemistet und laufend mit frischem Stroh nachgebettet. Für heiße Sommertage hat die Familie dort, wo die Kühe gemolken werden, eine Berieselungsanlage installiert, ein großer Ventilator sorgt für kühle und frische Luft im Stall. "Wellness" für seine "Mädls", erklärt Hammerle und grinst. Nur das Beste für die Kühe, sie gehören quasi zur Familie. (Lara Hagen, Maria Retter, Stefanie Ruep, 2.8.2023)