In seinem Gastkommentar schreibt der ehemalige Knesset-Sprecher Avraham Burg über die Beweggründe der Regierung für die umstrittene Justizreform. Er sieht auch Ermutigendes und Erfreuliches an den Protesten: Zum ersten Mal seit 1948 würden die Israelis die tiefe Bedeutung ihrer Demokratie erkunden.

Ein Blick auf die Demonstration aus der Vogelperspektive.
"Wir haben erst begonnen", hieß es bei einer Demonstration am Samstag in Tel Aviv.
Foto: AFP / Jack Guez

Der Boden in Israel bebt. Seit mehr als sieben Monaten findet ein beispielloser Kampf zwischen der rechtsgerichteten, ultrakonservativen Regierung und hunderttausenden Israelis statt, die entschlossen sind, die illiberale Gesetzeswelle abzuwehren.

Keine Verfassung

Vor der Sommerpause des Parlaments hat die Regierung das erste wichtige Kapitel eines Gesetzespakets verabschiedet, mit dem die Führungsstruktur des Landes geändert werden soll: die Abschaffung der "Angemessenheitsklausel". Diese Befugnis erlaubt dem Obersten Gerichtshof, Regierungsentscheidungen, die er für unangemessen hält, aufzuheben.

Israel hat, anders als Österreich und viele westliche Länder, keine Verfassung. Und es hat keine festgeschriebenen "Spielregeln". Der einzige Mechanismus, der die Gewaltenteilung sicherstellt, ist die Unabhängigkeit des Justizsystems. Die gesetzgeberischen Bemühungen der derzeitigen rechten Regierung zielen genau darauf ab, sie so weit wie möglich zu schwächen, um sie zu übernehmen. Das operative Ziel ist, dass Exekutive, Legislative und Judikative alle von einer einzigen politischen Kraft kontrolliert werden.

Drei Beweggründe

Es ist unmöglich, den Angriff auf die Gesetzgebung zu verstehen, ohne die Beweggründe dahinter zu kennen. Es gibt mindestens drei davon:

· Die kriminelle Motivation Die beiden prominentesten Führer des Regierungsblocks sind belastet. Premierminister Benjamin Netanjahu steht wegen schwerer Vergehen wie Bestechung, Betrug und Untreue vor Gericht. Neben ihm gibt es noch Aryeh Deri, den Vorsitzenden der ultrareligiösen Shas-Partei, der bereits mehrfach wegen strafbarer Handlungen verurteilt wurde, einige Zeit im Gefängnis saß und durch sein eigenes Geständnis und ein Gerichtsurteil aus dem öffentlichen Leben verbannt wurde. Er hat seinen Platz am Kabinettstisch und in der Nähe der Regierungsbudgets nie aufgegeben. Beide bemühen sich nach Kräften, das Justizsystem zu brechen, damit das Verfahren gegen Netanjahu eingestellt wird und der verurteilte Verbrecher in die Regierung zurückkehren kann.

· Die religiöse Motivation Zu den wichtigsten Bestandteilen der Koalition zählen die ultraorthodoxen Parteien. Nur wenige der Themen, die alle Israelis betreffen, tangieren sie. Ihre politischen Makler sitzen tief im politischen Kessel, nur um ihren unproduktiven Gemeinden riesige Budgets zu sichern. Und um sicherzustellen, dass sie niemals in der Armee dienen und die Last der wirtschaftlichen Sicherheit tragen müssen wie der Rest der israelischen Bürger. Sie müssen den Obersten Gerichtshof lahmlegen, damit er sie nicht nach dem Gleichheitsgrundsatz verpflichtet zu dienen oder dass er die Aufsicht über die Lehrpläne in ihren staatlich finanzierten Bildungseinrichtungen verlangt.

· Die kolonialistische Motivation Der extremste dogmatische Teil der Regierung sind die Vertreter der Siedler. Einige von ihnen vertreten eine geradezu rassistische Ideologie gegen Araber und Nichtjuden, andere haben getwittert, dass sie arabische Dörfer auslöschen wollen, und einige wurden bereits als Unterstützer des jüdischen Terrorismus verurteilt. Ihre Anhänger brennen palästinensische Dörfer nieder, bespucken christliche Pilger und schikanieren nichtjüdische Geistliche in den Straßen von Jerusalem. Sie wollen sicherstellen, dass Israel die besetzten Gebiete annektiert und dass sich ihre Vorstellung von jüdischer Überlegenheit in allen Bereichen des israelischen Lebens durchsetzt – sogar bis zur Umwandlung Israels von einem demokratischen Staat in einen des religiösen Rechts.

Die andere Seite

Die Dreifaltigkeit aus korrupten Politikern, öffentlichen Schmarotzern und fundamentalistischen Besatzern hat auf der anderen Seite den schlafenden liberalen Riesen geweckt. Die Zusammensetzung der Regierung, ihre Motivation, so viele liberale Errungenschaften wie möglich auszulöschen, die mangelnde Bereitschaft zum Dialog und zum breiten öffentlichen Konsens haben die Massen auf die Straße gebracht. Seit Monaten befindet sich Israel inmitten eines "kalten Bürgerkriegs".

Auf der einen Seite steht die Regierungskoalition, die mit parlamentarischer Gewalt versucht, Israel von einer fast liberalen Demokratie in ein Modell umzuwandeln, das Ungarn sehr viel ähnlicher ist. Auf der anderen Seite halten Hunderttausende von Israelis – jeder Vierte hat sich bereits an den Protesten beteiligt – dagegen. Sie wollen die Freiheiten, den persönlichen Status und die Säkularisierung des öffentlichen Raums bewahren. Der größte Teil der Exekutivgewalt liegt in den Händen der Regierung, die gesamte zivile Macht liegt in den Händen der Straße.

Neue Gleichung

Ärzte, Wirtschaftswissenschafter, Hightech-Unternehmer, Piloten und Sicherheitskräfte, Akademiker und ein Großteil des Judentums weltweit stellen sich gegen die Regierung. Die Entschlossenheit der Demonstrierenden, die sich gegen eine gewalttätige politische Polizei und peinliche rassistische Minister richtet, hat eine neue Gleichung geschaffen, die es Israel nicht erlauben wird, Polen oder Ungarn zu werden. Obwohl Netanjahu gerne so immun und geschützt wäre wie der russische Präsident Wladimir Putin.

Und bei all dem muss man bedenken: Der größte Teil dieses Kampfes ist Juden gegen Juden. Ein Fünftel der israelischen Bürger, Palästinenser mit israelischen Personalausweisen, beteiligt sich nur selten am zivilen Widerstand. "Habt ihr keine Demokratie?", fragen sie mit bitterem Spott: "Willkommen in unserer Welt. So etwas haben wir seit 75 Jahren nicht mehr gehabt." In ihren Worten steckt viel Wahrheit. Selbst unter der jetzigen Regierung war die israelische Demokratie in drei entscheidenden Bereichen verkrüppelt: Das orthodoxe religiöse Establishment schränkte die Religionsfreiheit und die Freiheit von der Religion der meisten israelischen Juden ein und tut das weiter. Nichtjüdische Bürger Israels litten seit der Staatsgründung unter inhärenter Ausgrenzung und unangemessenen Diskriminierungsgesetzen. In den letzten 56 Jahren hat das "demokratische" Israel Millionen von Palästinensern in den besetzten Gebieten die Freiheit und die demokratischen Rechte verweigert.

Tiefe Bedeutung

Es ist sehr schwierig, den Ausgang dieses zähen Bürgerkriegs vorherzusagen. Dennoch hat er etwas sehr Ermutigendes und Erfreuliches an sich: Zum ersten Mal seit 1948 erkundet eine große Anzahl der Israelis die tiefe Bedeutung ihrer Demokratie, versteht, dass Demokratie und ein religiöses Establishment nicht zusammenpassen können und dass es so etwas wie Demokratie mit Besatzung nicht gibt. Es ist noch viel Korrekturarbeit zu leisten, vor allem in Bezug auf die böswillige Besatzungspolitik. Dennoch muss daraus etwas Gutes entstehen. Oder nicht? (Avraham Burg, 2.8.2023)