Flüchtlingsboot vor der libyschen Küste.
Fischerboot mit Flüchtlingen in Seenot in libyschen Gewässern.
AP/Salvatore Cavalli

Die Mittelmeerpassage ist die tödlichste Fluchtroute der Welt. In den vergangenen Monaten gab es erneut einen Anstieg an Todesfällen im Mittelmeerraum, jüngst das Bootsunglück vor den Toren Griechenlands vom 15. Juni. Laut der Internationalen Organisation für Migration sind seit 2014 mindestens 22.000 Menschen bei ihrem Fluchtversuch im zentralen Mittelmeer ums Leben gekommen oder gelten als vermisst. Um diese Situation möglichst zu entschärfen, gibt es staatliche und mit der 2013 gegründeten Migrant Offshore Aid Station (Moas) auch private Seenotrettungen – die aber immer wiederkehrender öffentlicher Kritik ausgesetzt sind.

Das Narrativ des Pull-Faktors war in den vergangenen Jahren ein beliebtes und effektives Instrument von politisch Verantwortlichen, um rechtspopulistische Maßnahmen zu legitimieren und von NGOs ausgeführte Rettungsaktionen zu kriminalisieren. Als Pull-Faktor wird ein Anreiz für Menschen bezeichnet, der maßgeblich ist, die gefährliche Überfahrt durchs Mittelmeer zu wagen. Die griechische Küstenwache behauptete mit dem Pull-Argument im Februar dieses Jahres, NGOs würden die Todeszahlen mit ihren Rettungsmaßnahmen noch weiter nach oben treiben. Eine Forschungsgruppe, initiiert vom Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (Dezim-Institut), konnte dies nun wissenschaftlich widerlegen.

Datengestützte Computersimulation

Die im Fachjournal "Scientific Reports" veröffentlichte Modellstudie rund um Alejandra Rodríguez Sánchez konnte empirisch belegen, dass bestehende Seenotrettungsmissionen im zentralen Mittelmeer keinen Einfluss darauf haben, wie viele Menschen den Fluchtversuch wagen. Die Forschenden analysierten dazu Überquerungsversuche zwischen 2011 und 2020 mithilfe von Computersimulationen.

Rettungsaktion im Mittelmeer.
Aufgrund von Armut und Konflikten flüchten Menschen nach Europa. Private Seenotrettungen füllen humanitäre Versorgungslücken und retten Leben.
AP/Andoni Lubaki

Das Forschungsteam modellierte Computersimulationen auf Basis realer Daten. Dazu wurden modellierte Fluchtbewegungen mit realen Zahlen von 2011 bis 2020 verglichen. Diese stammen von der Europäischen Agentur für Grenz- und Küstenwache (Frontex), der libyschen und tunesischen Küstenwache, dem Netzwerk "United for Intercultural Action" sowie der Internationalen Organisation für Migration.

In der Datenauswertungen wurden jene Faktoren erhoben, welche die Zahl der stattgefundenen Grenzübertritte im Modell am genauesten vorhersagten. Zu diesen Faktoren gehören nicht nur privat und staatlich organisierte Seenotrettungsaktionen, sondern auch Wechselkurse, internationale Rohstoffpreise, Konflikte und Gewalt, Arbeitslosenquoten, Wetterbedingungen sowie der Flugverkehr zwischen afrikanischen und europäischen Staaten. Das Fazit war für die Migrationsforschenden wenig überraschend: Seenotrettungen sind immer ein Ergebnis von Fluchtbewegungen, nicht aber die Ursache dafür.

Wer ist verantwortlich?

Seenotrettungen sind weiterhin nationale Angelegenheiten. Verantwortung für Todesfälle im Mittelmeer zu übernehmen und Menschenrechtsverletzungen zu stoppen bleibt für die Institutionen der EU bis heute großteils ein Lippenbekenntnis. Besonders relevant ist in diesem Zusammenhang die Europäische Kommission, die die Frontex beaufsichtigt. Auf ihrer Homepage erklärt Frontex: "Das Mandat der Agentur wurde auch offiziell um Such- und Rettungsaufgaben erweitert, wenn derartige Aufgaben im Zusammenhang mit der Überwachung der Seegrenzen erforderlich werden."

Protest gegen Frontex mittels einem Boot aus Schwimmwesten. Der Slogan ist: Abolish Frontex.  
Das Kunstkollektiv "Kollektiv ohne Namen" und die NGO Sea-Watch brachten ihre Position zu Frontex im Mai im Fluss Ill vor dem Europäischen Parlament in Straßburg zum Ausdruck.
REUTERS/Johanna Geron

Pikant ist dabei, dass Frontex etwaige Rettungsmaßnahmen nicht selbst einleitet, sondern nur rechtlich verpflichtet sei, die nationalen zuständigen Küstenwachen zu informieren. Frontex schreibt zur Situation im Mittelmeerraum vor Libyen: “Frontex-Flugzeuge (sic!) treffen in der international anerkannten libyschen Such- und Rettungsregion (SAR) häufig auf überfüllte Boote in Seenot. Im Einklang mit dem internationalen Recht werden die Such- und Rettungsaktionen immer von den nationalen Rettungszentren koordiniert.”

Klassische Pull-Faktoren für Flüchtende sind meist der Wunsch nach Frieden, Sicherheit, Bildungsmöglichkeiten oder auch Arbeitsplätze. Nicht nur bei internationalen Fluchtbewegungen spricht man von Pull-Faktoren. Auch innerhalb eines Landes wird dieses Phänomen beispielsweise in der Abwanderung aus ländlichen Gebieten in städtische Regionen sichtbar. Aufgrund der Klimaerwärmung wird Landwirtschaft in einigen Gebieten nicht mehr möglich – Menschen müssen deshalb aus ruralen Gebieten abwandern.

Die prekäre Menschenrechtssituation für flüchtende Menschen im Mittelmeerraum wird seit Jahren von NGOs und Zivilbevölkerung angeklagt. Doch in den vergangenen Jahren kam es politisch kaum zu positiven Veränderungen für Flüchtende. Die nun veröffentlichte Studie macht erneut deutlich, dass die Flucht nach Europa über das Mittelmeer im Zeitraum 2011 bis 2020 hauptsächlich aufgrund von Konflikten, wirtschaftlichen Nöten und umweltbedingten Notlagen erfolgte. (Sebastian Lang, 4.8.2023)