Das Beitrittsszenario brächte auch den einfachen Russinnen und Russen Vorteile, schreibt Konstantin Sonin, Professor an der Harris School of Public Policy der University of Chicago, in seinem Gastkommentar.

Nato-Symbol hinter Ukraine-Flagge
Auf einen baldigen Beitritt zur Nato darf die Ukraine nicht hoffen. Doch nach dem Krieg scheint der Weg in das Bündnis offen.
Foto: Reuters / Valentyn Ogirenko

Der jüngste Nato-Gipfel in Vilnius endete mit einer Zusage zur Aufnahme der Ukraine nach Ende ihres Krieges mit Russland. Ein Konsens über einen sofortigen Beitritt des Landes bleibt freilich unerreichbar. Doch wären die Ukraine und die bisherigen Nato-Mitglieder nicht die einzigen potenziellen Nutznießer einer ukrainischen Mitgliedschaft. Selbst Russland, das unter dem Vorwand der Verhinderung einer Nato-Erweiterung in der Ukraine einmarschiert ist, hat dadurch viel zu gewinnen.

Der Nato-Beitritt der Ukraine würde Russland in die Lage versetzen, weniger Ressourcen auf die Produktion und Anhäufung von Munition zu verschwenden. Auch wenn die fixe Idee des Kremls von der Wiederherstellung eines russischen Großreichs nicht über Nacht verschwinden wird, könnte sich ihr Einfluss auf Entscheidungsprozesse verringern. Für Präsident Wladimir Putin und seine Verbündeten wäre das eine schlechte Nachricht. Doch den russischen Bürgerinnen und Bürgern könnte der Nato-Beitritt der Ukraine beträchtliche Vorteile bringen.

Zwar sind die direkten Kosten von Russlands Krieg gegen die Ukraine nur schwer kalkulierbar. Doch selbst konservative Schätzungen belegen den massiven wirtschaftlichen Preis des Konflikts. In den letzten 20 Jahren hat Russland viele Milliarden Dollar für militärische Ausrüstung ausgegeben – Geld, das es für Investitionen in wichtige öffentliche Dienstleistungen wie Bildung und die Gesundheitsversorgung hätte nutzen können.

Siechende Wirtschaft

Die direkten Kosten dürften nur einen Bruchteil der indirekten Aufwendungen betragen. Das Putin-Regime hat sich seit Jahren bemüht, die russische Wirtschaft von den globalen Finanzmärkten abzuschirmen. Sie siecht seit dem Ende der 2000er-Jahre vor sich hin. Die dadurch zwischen 2009 und 2022 entstandenen Produktions- und Einkommensverluste belaufen sich auf mindestens zehn bis 15 Prozent des BIPs. Und die Invasion in der Ukraine dürfte die wirtschaftlichen Probleme des Landes noch verschärft haben: Während beim Gesamt-BIP nur ein leichter Rückgang von zwei bis drei Prozent zu verzeichnen ist, ging der Einzelhandelsumsatz 2022 um 6,7 Prozent zurück. Zudem spiegeln die BIP-Zahlen den durch den massiven Exodus hochgebildeter Arbeitnehmer bedingten Strukturwandel der Wirtschaft hin zur regressiven Importsubstitution nicht wider.

Natürlich würde ein Nato-Beitritt der Ukraine den Schaden, den Putin der russischen Wirtschaft zugefügt hat, nicht ungeschehen machen. Doch wäre es letztlich nach dem Ende des Krieges sehr viel schwieriger, eine Priorisierung der militärischen Produktion gegenüber dem Wirtschaftswachstum zu rechtfertigen. Die Sicherheit der Ukraine zu gewährleisten würde zudem die neuerliche Integration Russlands in die Weltmärkte vereinfachen und beschleunigen. Dies würde Russlands wirtschaftliche Erholung beschleunigen und sicherstellen, dass Nachkriegsrussland seine Handelsbeziehungen nicht für künftige Angriffskriege nutzt.

Erträgliches Geschäft

In seiner brillanten Biografie Joseph Stalins hat der Historiker Stephen Kotkin dargelegt, wie der sowjetische Diktator vermeintliche externe Bedrohungen nutzte, um persönliche Macht zu erlangen und zu konsolidieren. Putin hat Stalins Rezept ein neues Element hinzugefügt. Während Stalin den Terror nutzte, um die Parteiführung auf Linie zu halten, nutzte Putin ihre Gier: Über die Militärausgaben machte er seine Mitstreiter zu Milliardären. Die Familien derjenigen, die den Krieg gegen die Ukraine planten und durchführten – Putin selbst, Verteidigungsminister Sergei Schoigu, der Sekretär des Sicherheitsrates Nikolai Patruschew und verschiedene Kabinettsminister –, haben es alle zu außerordentlichem Reichtum gebracht.

In ähnlicher Weise war der Krieg selbst für Putin und Co bisher ein einträgliches Geschäft. Die Financial Times berichtete, dass Patruschews Sohn eine entscheidende Rolle bei der Enteignung des russischen Vermögens der ausländischen Nahrungsmittelkonzerne Carlsberg und Danone gespielt habe. Zudem wurde, während Russlands Militärhaushalt seit 1999 jedes Jahr gestiegen ist, ein ständig steigender Anteil davon zum Staatsgeheimnis erklärt. Der Schleier der Geheimhaltung hat es den heimischen Waffenherstellern ermöglicht, Gewinnmargen aufrechtzuerhalten, die unter normalen Marktbedingungen unerreichbar wären.

Militarisiertes Regime

Putins Unterstützer behaupten oft, dass Russland den Krieg in der Ukraine ohne Putin verlieren würde. In Wahrheit wird Russland verlieren, weil dies ein verbrecherischer Krieg ist – eingeleitet von einem Herrscher, der ein hochgradig personalisiertes, militarisiertes Regime errichtet hat, in dessen Mittelpunkt sein Wunsch und der seiner Komplizen steht, sich ihre Macht zu erhalten und sich zu bereichern. Wenn die Ukraine der Nato beitritt, wird es Putin und künftigen Politikern wie ihm schwerfallen, die Russen zu überzeugen, dass massive Investitionen ins Militär nötig sind.

Politologen wie Stephen Walt (Harvard) und John Mearsheimer (University of Chicago) haben argumentiert, dass Russlands Haltung gegenüber der Ukraine und anderen Nachbarländern eine Folge und keine Ursache der Nato-Erweiterung sei. Dieses Argument wurde durch die russische Invasion beerdigt. Zwar hat Russland die Nato-Erweiterung tatsächlich als Rechtfertigung für seinen Einmarsch in der Ukraine angeführt. Doch hat seine Annexion vier ukrainischer Oblaste im September 2022 bewiesen, dass dies ein Eroberungskrieg ist. Tatsache ist, dass Putins Krieg gegen die Ukraine eine weitere Nato-Erweiterung ausgelöst hat; er hat Finnland und Schweden veranlasst, ihre traditionelle Neutralität aufzugeben und fast unmittelbar nach dem Invasionsbeginn um Aufnahme ins Bündnis zu ersuchen.

Verhaltene Reaktion

Obwohl diese Entwicklungen Russlands Grenze zur Nato verlängern, fiel die Reaktion Moskaus verhalten aus. Während das Schreckgespenst der Nato-Erweiterung Putin als Propagandainstrument gute Dienste geleistet hat, betrachtet Russland die Nato nicht als ernsthafte Bedrohung. Und obwohl der potenzielle Beitritt der Ukraine angesichts anhaltender Schwierigkeiten Russlands auf dem Schlachtfeld als Kampfruf nützlich bleibt, wird seine Nützlichkeit abnehmen, sobald der Krieg erst einmal vorbei ist.

Die Interessen Russlands mögen das Letzte sein, was diejenigen, die über die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine entscheiden – die Ukraine selbst und die Bündnismitglieder – berücksichtigen sollten. Doch hätte der Beitritt der Ukraine einen echten Nutzen für Russland. Erstens würde eine Stärkung der Sicherheit der Ukraine die Sicherheit der Nachbarländer einschließlich Russlands erhöhen. Als letzter Sargnagel des russischen Imperialismus würde er Russlands Bürgern, die den Preis für Putins vergebliche Ambitionen gezahlt haben, eine willkommene Entlastung bringen. Vor allem aber könnte ein Beitritt der Ukraine zum Bündnis eine Abschreckung gegenüber einem künftigen Stalin oder Putin darstellen, der versucht sein könnte, sich auf Isolationismus und Militarismus zu stützen, um an die Macht zu kommen und sich dort zu halten. (Konstantin Sonin, Übersetzung: Jan Doolan, Copyright: Project Syndicate, 4.8.2023)