Olga Martynova
Ausnahmezustände der Psyche: Olga Martynova.
Gaëlle Deleflie

Über den Tod eines geliebten Menschen zu schreiben ist ein Balanceakt sondergleichen, der alle Kräfte in Anspruch nimmt und sie verzehren kann. Welche Worte sind richtig? Gibt es ansatzweise treffende? Will man das, kann man das? Sich neuerlich durch Reflexion noch verschärfenden Verlustgefühlen aussetzen, der Leere, der Trauer?

Olga Martynova, Autorin, Übersetzerin, Kritikerin, tat dies. Ihr wie ein Tagebuch aufgebautes Gespräch über die Trauer, am 3. August 2018 einsetzend und exakt drei Jahre später endend, ist keine psychologische finalisierende "Trauerarbeit". Es ist ein Gespräch über diesen Ausnahmezustand der menschlichen Psyche namens Trauer, bei dem sich nichts mehr als sicher erweist. Es ist ein Selbstgespräch, ein immer wieder sich dem aufpulsenden Schmerz zärtlich stockend stellendes Selbstversicherungsnachdenken über Leben und Tod und Leben. Ein jedes Adjektiv, ob schön, ob fein, ob sensibel, verbietet sich, weil schal, hierfür.

Im Mittelpunkt: Oleg Jurjew, 1959 in Leningrad geboren, Sohn eines Musikers und einer Anglistikprofessorin. Anfang der 1980er-Jahre lernten sich Olga Martynova, um drei Jahre jünger, und er in Leningrad kennen und lieben. Jurjew hatte sich an der Hochschule für Volkswirtschaft und Finanzen inskribiert, entwand sich so dem Militärdienst, verabschiedete sich 1982 nach seinem Abschluss für immer von der Ökonomie und verschrieb sich der Literatur. Für sein Stück Komische Geschichten für Schattentheater gewann er 1988 den Preis des sowjetischen Theaterverbands.

Die russische Fracht

1990 emigrierten sie mit ihrem kleinen Sohn nach Deutschland und ließen sich in Frankfurt am Main nieder. 1992 erschien sein erstes Buch auf Deutsch, die Leningrader Geschichten, ein Buch über "Bäume, Insekten, Frauen und natürlich über den Mond". Ein Jahr später: Sein Stück Kleiner Pogrom am Bahnhofsbüffet wurde bei den Berliner Festwochen aufgeführt. Danach konzentrierte sich Jurjew auf spielerisch groteske Prosa und Lyrik. Der Frankfurter Stier. Ein sechseckiger Roman erschien 1996, 1999 der Roman Halbinsel Judatin, der von vorn wie von hinten gleichermaßen aufgeschlagen werden konnte, 2009 Die russische Fracht, ein Meteor, der in die westeuropäische Gegenwartsliteratur einschlug und völlig quer zum Programm des ihn publizierenden Suhrkamp-Verlags stand. Stilistisch verwegen, ideenreich, sprachspielerisch kalauernd, diverse Genres wüst plündernd und geplant unübersichtlich schilderte Jurjew die Abenteuer Weniamin Jasytschniks an Bord des Kühlschiffes Typ "Ulysses", Projekt 17700, "Zweifacher Held der Sowjetunion P. S. Atenov".

Dazu kamen Tote, die keine Toten sind, sondern in künstlichen Tiefschlag versetzte Russen, die sich so der Semi- und Vollkriminalität entziehen wollen. Der Kapitän sitzt im Rollstuhl, singt in Permanenz russische Kriegslieder und hat die Brücke seit mehreren Jahren nicht mehr verlassen. Wie ein Parzival stolpert Weniamin über und unter Deck des Schiffes, das am Ende gerettet wird – vom auf dem Wasser laufenden Zaren Peter. Jurjews letztes Buch war der Briefroman Unbekannte Briefe.

Am 5. Juli 2018 starb er, seit längerem krank, im Schlaf, drei Wochen vor seinem 59. Geburtstag. Olga Martynova hatte kurz die Wohnung verlassen und eilte, vom Sohn angerufen, panisch zurück. Nicht im Leben fühlt sie sich seither, "nach dem Leben (egal wie lange noch)".

Olga Martynova, "Gespräch über die Trauer." € 26,50 / 304 Seiten. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2023.

Den Schmerz zerlegen

Ihr Antrieb: "Das Bedürfnis zu wissen, wie andere Trauernde damit umgehen, was man nicht umgehen kann. Ein Grund, warum ich beschloss, all das niederzuschreiben." Sie sucht Trost bei anderen Trost-Autorinnen und -Autoren, bei Novalis, Joan Didion, Julian Barnes, C. S. Lewis, Elias Canetti, Emmanuel Lévinas, Nikolaj Fjodorow. Den Schmerz zu zerlegen – ist das eine Illusion? Und die Struktur des Schmerzes dann bloßzulegen und so den Schmerz betrachten zu können? Ist das eine Illusion?

Glanzvoll ist ihre Promenade durch Neapel. Neapel, stellt sie als Kurzbesucherin verzaubert-irritiert fest, scheint keine irrationale Furcht vor den Toten zu haben. "Lasst mir meine Trauer. Ich fühle mich manchmal wie ein listiger Verrückter, der nur so tut, als wäre er ‚normal‘." Einer von vielen bemerkenswerten Sätzen. Ein noch schönerer lautet: "Die Größe und Würde des Menschen liegt auch im Bewahren seines Rechtes auf banale und lächerliche Dinge wie Liebe und Trauer."

Ein Buch für Oleg, für sie, über Oleg, über sie, ein Buch für alle. (Alexander Kluy, 5.8.2023)