Thomas Mann am Strand von Nidden
Ferien an der Ostsee als die "unzweifelhaft glücklichsten" Tage des Lebens: Thomas Mann am Strand von Nidden, Kurische Nehrung.
ullstein bild / Ullstein Bild /

Ein Leben lang war das Meer für Thomas Mann ein verheißungsvoller Sehnsuchtsort. Noch kurz vor seinem Tod verbrachte er einen letzten Strandaufenthalt im holländischen Noordwijk, den er abbrechen musste, als sich gesundheitliche Beschwerden einstellten. Vom Fenster seines Krankenhauszimmers aus konnte er das Meer nicht mehr sehen, und er sollte es nie mehr sehen. Das "schien ihm unbillig hart", schrieb später seine Tochter Erika. Immerhin habe er gerade hier, am Endpunkt seines Lebens, das Meer mit einer Hingabe genossen wie einst als Kind.

Noordwijk war schon einmal Station an einem Wendepunkt: 1939, er war schon im amerikanischen Exil, wollte Thomas Mann dort unbeschwerte Tage verbringen – als er vom Krieg in Europa überrascht wurde und überhastet in die USA zurückreiste. Eines von vielen Zentralereignissen im Leben des Dichters, die zugleich mit dem Meer zu tun haben und reichlich Stoff für Volker Weidermanns biografische Erzählung Mann vom Meer bieten. Der Autor, versierter Literaturkritiker, Moderator und Feuilletonchef der Zeit, hat darin entsprechend Übung: Nach ähnlichem Muster hat er über Joseph Roth und Irmgard Keun in Ostende geschrieben, über Anna Seghers in Mexiko oder über die Hassliebe der beiden Literaturkönige Grass und Reich-Ranicki im Nachkriegsdeutschland.

Buch
Hanjo Kesting, "Thomas Mann. Glanz und Qual". € 28,80 / 400 Seiten. Wallstein- Verlag, Göttingen 2023
Wallstein

Suche nach dem Urstrand

Wer eines der Bücher gelesen hat, weiß: Weidermann liebt panoramenhafte Schilderungen mit Unterhaltungswert, da gibt erst recht die Familie Mann eine wie gewünschte Vorlage ab. Und lässt den Bogen weit spannen, bis zurück zu den Kindertagen von Thomas Manns Mutter Julia da Silva-Bruhns, die bis zu ihrem siebenten Lebensjahr in Brasilien, in einer tropischen Bucht am Atlantik, aufwuchs, sozusagen der "Urstrand" der Familiengeschichte. Die Liebe zum Meer vererbte die Mutter an den zweitgeborenen Sohn: Thomas Mann ist sieben, als er erstmals in Travemünde das Meer sieht. Es liegt geradezu vor der Haustür des heimatlichen Lübeck und bestimmt fortan das Leben.

Die Ferien an der Ostsee bedeuteten ihm die "unzweifelhaft glücklichsten Tage meines Lebens". In den Buddenbrooks hat er diese Eindrücke als Ur-Erlebnis nachgezeichnet und das Meer zum unvergleichlichen Sehnsuchtsort gemacht. Auch später hat er immer wieder das Meer gesucht: auf Sylt, in seinem Sommerhaus auf der Kurischen Nehrung, an der Adria, an der Côte d’Azur und im kalifornischen Exil am Pazifik. Das Meer ist auch zentrales Motiv im Werk, "der stille Held all seiner Bücher", so Weidermann, und wird gar mit Todessehnsucht verbunden: "Liebe zum Meer", heißt es einmal bei Thomas Mann, "ist nichts anderes als Liebe zum Tode."

Sehnsuchtsreflexion

Das meint nicht zuletzt den titelgebenden Tod in Venedig, der am Strand, im Angesicht der Wellen geschieht. Selbst im Zauberberg, mitten in den Schweizer Alpen, ist das Meer weit im Norden eine Sehnsuchtsreflexion. Viele Protagonisten im Werk Thomas Manns, meist Spiegelfiguren seiner selbst, leiden an der Meeressehnsucht, und eben anhand dieser versucht Weidermann das Wesen Thomas Mann begreifbar zu machen. Indem er geschickt Originalzitate zu einer aufschlussreichen, kurzweiligen Erzählung montiert, schreibt er sich mit Eifer entlang der Lebens- und Werkgeschichte, vom Gefühlsüberschwang der frühen Jahre bis zur unnahbaren Distanziertheit des Alters.

Auch wenn nicht alles korrekte Realität sein mag (einmal werden die beiden Lübecker Familienhäuser verwechselt), handelt es sich hier um ein aufschlussreiches und kurzweiliges Buch. Der etwas betuliche Stil muss einem nicht immer gefallen, denn an manchen Stellen wird der Autor "poetisch", verfällt in unnötige Wiederholungen und Ausschmückungen, und das liegt nicht an Thomas Mann, dem manche Kritiker bis heute "Untiefen des Kitsches" vorwerfen. (Hier gilt es, Einspruch zu gebieten!)

Buch
Kerstin Holzer, "Monascella. Monika Mann und ihr Leben auf Capri". € 22,70 / 208 Seiten. dtv, München 2022.
dtv

Monika, die Meersüchtige

Thematisch ganz ähnlich ist die biografische Erzählung von Kerstin Holzer: Monascella. Im Titel verbirgt sich Thomas Manns zweitälteste Tochter Monika, die dreißig Jahre lang auf Capri gelebt hat. Eine Meersüchtige auch sie. Und dann wäre noch die Jüngste, die Lieblingstochter Elisabeth, die als Seerechtsexpertin ihr Leben dem Schutz der Weltmeere verschieb. Über sie hat die Münchner Journalistin Kerstin Holzer bereits einen Bestseller geschrieben. Nun widmet sie der mittleren der Mann-Töchter ein eindrückliches Porträt.

Monika ist allerdings ein Sonderfall in der Familie, eine ungeliebte Randfigur, die man das Gefühl der Peinlichkeit allzu deutlich spüren ließ. Dabei hätte gerade sie vermehrter Aufmerksamkeit bedurft. 1940 wurde das Schiff, mit dem sie nach Kanada flüchten wollte, von einem deutschen U-Boot versenkt. Ihr Mann, ein ungarischer Kunsthistoriker, kam dabei ums Leben, sie selbst trieb zwanzig Stunden auf dem Meer. Als sie mit den wenigen Überlebenden in New York eintraf, wurde sie von ihrer Mutter erwartet – der Vater hatte anderes zu tun.

Fragiles Glück

Glück war im Leben von Monika Mann immer etwas Fragiles. Sie gehörte, wie sie selbst einmal in einem Brief an ihren Lieblingsbruder Klaus schrieb, "zu den Menschenkindern, die unsagbar glücklich und unsagbar unglücklich sein können". Das war 1936, als sie in Florenz Privatstunden beim renommierten Pianisten Luigi Dallapiccola nahm. Für die erhoffte Karriere reichte das Talent nicht aus. Daraufhin versuchte sie es mit Schreiben – und erntete Spott und Ablehnung durch die Familie. Immerhin hatten es schon drei der sechs Kinder dem Vater gleichzutun versucht: Klaus, Erika und Golo.

Dass Monika ebenfalls literarische Ambitionen hatte, wurde in der Familie als "anstößig" gesehen. Das "trübe Problem Moni" nannte es Thomas Mann in seinen Tagebüchern. Der übermächtige "Vater Zauberer" hielt so gar nichts davon, nannte ihre literarischen Versuche "Stückchen". Sie aber wollte es unbedingt wissen – das väterliche Urteil fiel nur wenig freundlich aus: "Ja, gutes Mönle, was lässt sich da sagen?" Von "zerknülltem Alabaster" und "knusprigem Mythos" ist die Rede, und: "etwas dünn wohl" …

Ungeliebte Tochter

Das ging unter die Haut. Ein Leben lang konnte sich Monika der "Aura des Vaters" nicht entziehen, er stand "turmhoch über allem", schrieb sie später in ihrer Autobiografie, menschlich fassbar wurde er nie. Ebenso wenig die Mutter, die alles, was das "Halbtalentchen" schrieb, "geschmacklos" fand. Für sie war die Tochter überhaupt der "völlig unnütze Sonderling" im Familienunternehmen Mann. Faul, verstockt, egozentrisch, unleidlich, infantil, unbegabt.

Die Eltern nahmen ihr übel, dass sie so elend lang um "Bestimmung" rang, sie wiederum litt darunter, in dieser Familie "so kompliziert allein" zu sein. Kompliziert war sie tatsächlich und immer schon ein wenig kapriziös, anlehnungsbedürftig, nach Liebe heischend, die es nicht gab. Während andere in der Familie ihre "Heiterleins" nahmen (Schlafmittel, Morphium, Alkohol), wollte sie ihre Gefühle nicht unterdrücken. Sie flüchtete in Nervenzusammenbrüche und "Männergeschichten" – bis sie 1954 auf Capri in dem Fischer Antonio Spadaro doch noch ihr Glück fand.

Drei Jahrzehnte lang wird dieses Glück halten. Drei Jahrzehnte am Meer, in einer Villa, die einst so illustre Gäste wie Alma Mahler und Oskar Kokoschka beherbergt hat. Erst recht tummelte sich zu Monikas Zeit die Prominenz des Mid-century auf Capri und frönte einem Dolce Vita, dem Monika stets fernblieb und für das sie viel zu scheu war. Mehr noch, dieser Gesellschaft, selbst ihrem Nachbarn Curzio Malaparte gegenüber, den sie von ihrer Veranda aus sehen konnte, blieb sie reserviert, verhielt sich manchmal überheblich. Sie führte ihr eigenes Inselleben.

Buch
Volker Weidermann, "Mann vom Meer. Thomas Mann und die Liebe seines Lebens". € 23,70 / 240 Seiten. Kiwi, 2023.
Verlag

Vergangenes und Gegenwärtiges

Für die Familie war ihr Lebensgefährte natürlich nicht "standesgemäß", zumindest nach außen hin wahrte man die Form. Aber mit der nun in Zürich ansässigen Familie verband Monika ohnehin nur noch wenig, nicht einmal zu Weihnachten kam sie auf Besuch, auch den 50. Hochzeitstag der Eltern ließ sie aus. Nach dem Tod des Vaters dann das offene Zerwürfnis und die Konkurrenz mit der älteren Schwester Erika. Beide Schwestern, fast im Wettstreit, arbeiteten an einem Erinnerungsbuch: Erika, die strenge Hüterin des geistigen Vater-Erbes und "inoffizielle Vorsitzende der Firma Mann", schrieb über das letzte Lebensjahr von Thomas Mann; Monika auf Capri stellte ihr erstes Buch fertig: Vergangenes und Gegenwärtiges. Ihr deutscher Verlag warb in der Vorankündigung mit "Die Tochter von Thomas Mann …"

Das stand ihr, der kleineren Schwester, nicht zu. Erika, die sich allein legitimiert sah, Auskunft zu geben, reagierte mit einem Wutbrief: "Dies Ganze ist ekelhaft!". Auch die Mutter war entsetzt über das "widrige Mönle" und deren "illegitimes Buch", umso mehr, als Monikas Erinnerungen dann mehr Anerkennung ernteten als Erikas Bericht Über meinen Vater, wie ihr Buch im Untertitel heißt. Das durfte schon gar nicht sein. Als 1975 Katia Manns Ungeschriebene Memoiren erschienen, wurde Monika darin nicht einmal genannt.

Die ungeliebte Tochter tröstete sich, im Anblick des Meeres, mit dem kleinen Capreser Glück – bis dieses 1985 zu Ende ging. Nach Antonios Tod musste Monika die Villa Monacone verlassen und zog nach Kilchberg, wo ihr Bruder Golo die Mann’sche Villa bewohnte. Der, so wird überliefert, hatte sich immer vor dem Einzug der psychisch labilen Schwester gefürchtet. Und wie man weiß, ist es auch nicht gutgegangen. Aber das wäre schon ein neues, nächstes Buch, Stoff genug auch das.

Tiefe Einblicke

Als Leser hat man natürlich Verständnis für die bedauerliche Außenseiterin der Manns, auch wenn dieses Buch vielleicht eine Spur zu viel Partei für sie ergreift und an manchen Stellen mehr Außensicht gutgetan hätte. Insgesamt ist Monascella ein berührendes Frauenporträt, das uns geradezu beängstigend tief in den verstörend-faszinierenden Kosmos der Familie Mann führt.

Wer es weniger privat haben möchte, dem sei Hanjo Kestings beeindruckende Werkmonografie Thomas Mann. Glanz und Qual anempfohlen. Hier werden die Untiefen literarisch ausgelotet, die Einheit von Person und Werk wird als beispielhaft für eine untergegangene bürgerliche Kultur beschrieben. (Gerhard Zeillinger, 5.8.2023)