Die US-amerikanische Graphic-Novel- Königin Alison Bechdel hat ein kluges Buch über Selbstoptimierung und Selbstbehauptung vorgelegt.
Alison Bechdel

Ein "leichtes Sportbuch" sollte es werden, wie Alison Bechdel nach ihrem zweiten Elternteil-Comic über ihre Mutter dem Verlag und sich selbst gegenüber ankündigte. Tatsächlich turnt sich die inzwischen 60-jährige US-amerikanische Zeichnerin gleich auf dem ersten Dutzend Seiten von Das Geheimnis meiner Superkraft virtuos über alle möglichen Fitnessgeräte und durch alle möglichen Sportarten – oder windet sich nur sehr gelenkig um einen Klappstuhl herum. Im Lauf ihres Lebens hat Bechdel jedenfalls ihre Vorlieben mehrmals geändert. "Ich bin jedem Fitnesstrend der vergangenen sechs Jahrzehnte hinterhergedackelt", gesteht das Alter Ego der Autorin, doch ihre Liebe zur Bewegung ist älter als die moderne Freizeitindustrie.

Als Kind bettelte sie ihre Mutter um Turnschuhe an, die damals nur für Buben gedacht waren. Diese drohte im Gegenzug an, ihr einen "Ich bin ein Mädchen"-Sticker ans Hemd zu kleben. Sport ist für Bechdel ein Lebenselixier, Fitness stellt für sie jedoch auch ein "Medium für etwas ganz anderes" dar, nämlich das "Gefühl, wenn Geist und Körper eins werden".

Erholung vom Sozialstress: Bilder aus "Das Geheimnis meiner Superkraft".
Alison Bechdel

Sehnsucht nach dem Mutterleib

Während die gezeichnete Figur in rotem T-Shirt, blauer Hose und mit breitem Cowgirl-Hut über diese Fragen und den Wunsch nach einer größeren Einheit sinniert, balanciert sie auf einem über einem Bach liegenden Baumstamm. Als ihr einfällt, dass Sigmund Freud diesen Wunsch infantil gefunden hat, weil sich darin die "Sehnsucht nach dem Mutterleib" ausdrücke, stürzt die Baumtänzerin der Länge nach zwar nicht in den Bach, aber auf den Stamm: "#&%!" Ohne ihren Gedankengang groß zu unterbrechen, rappelt sie sich auf – und weiter geht’s.

In dieser Szene offenbart sich etwas, was für die Comicautorin typisch scheint: Mit Ironie und Witz zeichnet sie ihr Leben, genauso unverblümt und schonungslos enthüllt sie jedoch persönliche Niederlagen. Darüber hinaus, und das macht den Comic auch für weniger Sportliche anregend, spinnt die Autorin ihre autobiografischen Erlebnisse in ein verzweigtes Netz aus literarischen Bezügen und Verweisen ein.

Aufgewachsen in der pennsylvanischen Provinz, begann Bechdel nach einem geisteswissenschaftlichen Studium 1983 mit der Veröffentlichung von Comicstrips, entwickelte die Serie Dykes to Watch Out For (etwa: Lesben, vor denen man sich in Acht nehmen sollte), die alsbald in mehreren Zeitungen erschien und ihr den Kultstatus als feministische Zeichnerin einbrachte. Ursprünglich als Witz gedacht, erfand sie in einem Fünf-Panel-Strip die heute als Bechdel- oder Sexismustest bekannte Nagelprobe für die Repräsentation von Frauen in Filmen.

Buch
Alison Bechdel, "Fun Home – Eine Familie von Gezeichneten". Übersetzt von Sabine Küchler und Denis Scheck. Kiwi, 2008.
K&W

Eine Familie von Gezeichneten

Gut 20 Jahre später wagte sich die Autorin an ein anderes Thema: die Aufarbeitung ihrer komplexen Familiengeschichte. Fun Home – Eine Familie von Gezeichneten (2006) wurde weit über die Szene hinaus als Erfolg gefeiert und in eine Tradition eingeordnet, die mit Art Spiegelmans Maus – Die Geschichte eines Überlebenden (1980–1991) erneuert und etwa von David B.s (aka Pierre-François Beauchards) Die heilige Krankheit (1996–2003) oder Marjane Satrapis Persepolis (2000–2003) fortgesetzt wurde.

Fun Home erzählt Kindheit und Jugend der Autorin rund um den plötzlichen Tod ihres Vaters Bruce – war es nun ein Unfall oder doch Selbstmord? –, als sie selbst gerade einmal zwanzig war, und ist ebenso kritische Auseinandersetzung wie Hommage. Der Englischlehrer und Betreiber des Bestattungsinstituts "Bechdel Funeral Home" – von den Kindern zu "Fun Home" verkürzt – hatte zeitlebens das Geheimnis seiner Homosexualität zu verbergen gesucht.

Buch
Alison Bechdel, "Wer ist hier die Mutter? – Ein Comic-Drama". Übersetzt von Thomas Pletzinger und Tobias Schnettler. Kiwi, 2014
K&W

Romantik bis Feminismus

Auf den Vater-Comic folgte der Mutter-Comic: Wer ist hier die Mutter? Ein Comic-Drama (2012). Waren die zentralen literarischen Bezüge im Ersteren unter anderem auch Lieblingslektüren ihres Vaters – James Joyce’ Ulysses und Marcel Prousts Auf der Suche nach einer verlorenen Zeit –, so findet die Auseinandersetzung mit ihrer Mutter vor allem über Alice Millers Das Drama des begabten Kindes und dieSuche nach dem wahren Selbst und die Schriften des Psychoanalytikers Donald Winnicott statt.

Im aktuellen Comic schlägt die Autorin schließlich einen Bogen von den englischen Romantikern Samuel Taylor Coleridge, William und Dorothy Wordsworth über die nordamerikanischen Transzendentalisten um Ralph Waldo Emerson, Margaret Fuller und Henry David Thoreau bis hin zur Beat Generation um Jack Kerouac, aber auch zu feministischen Autorinnen wie Adrienne Rich.

Buch
Alison Bechdel, "Das Geheimnis meiner Superkraft". Übersetzt von Thomas Pletzinger und Tobias Schnettler. Kiwi, 2023.
K&W

Grafischer Bildungsroman

Was die verschiedenen Epochen und literarischen Bewegungen verbindet, ist eine verwandte Art von "Widerstand gegen Repression – von außen wie von innen", bei der die Entdeckung der Natur, das Wandern sowie Versuche einer Transzendenz des eigenen Ichs eine entscheidende Rolle spielen. Das Geheimnis meiner Superkraft selbst, koloriert von Bechdels Partnerin Holly Rae Taylor, ist entsprechend den biografischen Jahrzehnten der Zeichnerin in sechs Kapitel unterteilt und lässt sich als grafischer Bildungsroman lesen.

Die Jahrzehnte erweisen sich im Rückblick als Schwellen und Zyklen, in denen die Protagonistin wiederholt Metamorphosen durchläuft, in denen sie neue Erfahrungen ihrer "Superkraft" sammelt. Damit einher gehen die Selbstwahrnehmung und Sozialisierung als "sexuelle Dissidentin". Grandios beschreibt Bechdel Erlebnisse der kleinen Alison von ihrer "Einheit mit dem Ball" und der Ahnung, wie sie ihr "winziges, mickriges Ich vergrößern könnte", "tranceartige Erfahrung[en] von Einheit", die sich später beim Laufen, Karate, Radfahren oder bei einem "Pilz-Trip" wiederholen.

Zugleich jedoch offenbart sich eine ernüchternde Unbeständigkeit des Rauschzustands. Auf die Glücksmomente folgen Rückschläge, Einbrüche, Krisen. Eingeholt von unaufgearbeiteten Familiengeschichten findet sich die Autorin auf der Analysecouch. Der Erkenntnisprozess ist ein schmerzhafter, und mitunter möchte der Leser einige Krisenaufzeichnungen überspringen. Doch dann ist da dieser Charme, mit dem die Autorin ihre Haken schlägt und ihre Ethik des Selbst mit Literatur und Gesellschaft verwebt. Das Laufen lässt Bechdel politische Erschütterungen wie die Trump-Wahl überstehen. "Ich muss in Form bleiben", spricht sie sich Mut zu: "Falls es noch schlimmer wird und ich Nachrichten für den Widerstand überbringen muss. Niemand wird eine kleine alte Dame verdächtigen." (Martin Reiterer, 5.8.2023)