Schriftsteller Emmanuel Carrère
Der vielfach ausgezeichnete französische Schriftsteller Emmanuel Carrère war bei fast allen V13-Verhandlungen in Paris anwesend. Entstanden ist ein außergewöhnliches Prozessporträt.
Francesco Fotia / AGF / pictured

Im Spätherbst 2020 erhielt der Nouvel Observateur (im französischen Volksmund gern auch "Nouvel Obs" genanntes, linksliberales Wochenmagazin, Erscheinungsort Paris) ein Schreiben. Es enthielt ein Angebot eines Journalisten, das Chefredakteur Grégoire Leménager umgehend in freudige Stimmung versetzte. Und das, obwohl sich das Angebot auf eine Angelegenheit bezog, die sonst nur wenig Platz für positive Emotionen ließ und lässt.

Die Rede ist von den Terroranschlägen des 13. November 2015, die die Weltöffentlichkeit und erst recht die französische Nation bis ins Mark erschütterten. Ein vom notorisch mordlustigen, sogenannten "Islamischen Staat" inspiriertes Terrorkommando, neun Mann stark, verübte an diesem Tag eine Reihe von konzertierten Selbstmordanschlägen und Maschinengewehrattacken an Schauplätzen in und um Paris: vor dem Stade de France, im Konzertsaal Bataclan, auf mehrere Café- und Restaurantterrassen im Osten der Metropole.

Das Gemetzel zog sich über Stunden hin. Es forderte 130 Todesopfer und mehrere Hundert Verletzte, von denen viele nur grausam verstümmelt überlebt haben. Fast sechs Jahre dauerte es, ehe die Vorbereitungen so weit waren, dass im September 2021 mit der strafrechtlichen Aufarbeitung des Geschehens im Rahmen eines Gerichtsprozesses begonnen werden konnte.

Hier kommt erneut unser Journalist ins Spiel. Sein Name lautet Emmanuel Carrère, und sein Angebot an den Nouvel Obs war es, den erwartungsgemäß außerordentlich langen Prozess von Anfang an bis zum Ende penibel zu beobachten und seine Eindrücke und Erkenntnisse in einer Art wöchentlicher Gerichtskolumne niederzuschreiben. Mit dieser Aufgabe wurde er dann auch sehr schnell betraut, neben den hauseigenen Gerichtssaalberichterstattern des Nouvel Obs. Über neun Monate hinweg (so lange wie eine Schwangerschaft, wie ein Schuljahr, bemerkt Carrère) erstreckten sich der Prozess und die zugehörige Beobachtungs- und Dokumentationstätigkeit.

Viele Rosen und harte Lektüre

Seinen Job hat der Reporter bravourös erledigt. Die Geschehnisse im Gericht wurden tadellos zusammengefasst, nennenswerte Versäumnisse oder Fehler passierten ihm in den wöchentlich 7800 Zeichen umfassenden Kolumnen keine. Chefredakteur Leménager streute Carrère nach getaner Arbeit jedenfalls Rosen: "Mit einem Journalisten wie Emmanuel Carrère zu arbeiten, das heißt, mit einem perfekten Journalisten zu arbeiten, einem, dem es eine Ehrensache ist, jede Woche einen perfekten Artikel abzugeben, punktgenau zum vereinbarten Abgabetermin, ohne den geringsten Fehler im Satzbau oder das kleinste Problem bei der Lesbarkeit. Ein Journalist, der obendrein sofort reagiert, wenn man ihm einen Titel oder, was trotz allem manchmal vorkommt, eine mikroskopisch kleine Änderung vorschlägt."

Die 2022 auf Französisch und soeben im Verlag Matthes & Seitz auf Deutsch erschienene Zusammenstellung seiner Reportagen, wie alle Carrère-Bücher von Claudia Hamm hervorragend übersetzt, trägt den Titel V13. Das steht für "Vendredi treize", jenen Freitag, den 13., an dem das Massaker stattfand. In Frankreich ist hinreichend bekannt, was mit V13 gemeint ist; für die deutschsprachige Leserschaft wurde ein erklärender Untertitel (Die Terroranschläge von Paris) hinzugefügt.

Harte Lektüre

Der journalistische Ursprung des V13-Buches spiegelt sich in seinem Aufbau und seinem äußeren Erscheinungsbild wider. Der Fließtext wird auf jeder dritten oder vierten Seite (gelegentlich sind es einige mehr) durch die manchmal lapidaren oder dann wieder nach ergänzender Deutung verlangenden Originaltitel von Carrères Kolumnen quasi interpunktiert und strukturiert: "Mittelbare Opfer und leidende Zeugen", "Zwei Stunden, 38 Minuten und 47 Sekunden" (bezieht sich auf die Dauer eines Audiomitschnitts vom Beginn der Schießerei im Bataclan), "Im Parkett", "Das Mysterium des Guten" und so fort. Carrère hat das Kolumnenkonvolut gründlich überarbeitet und um vieles ergänzt, was im Prokrustesbett der 7800 Zeichen zunächst keinen Platz hatte.

V13 ist eine harte Lektüre. Das Buch ist in drei große Abschnitte eingeteilt, die jeweils den Opfern, den Angeklagten und dem Gerichtshof gelten. Bereits die ersten paar Dutzend Seiten warten mit Details über den Verlauf des Anschlags im Bataclan auf, die der Leserschaft eine gute Psyche und einen guten Magen abverlangen. Die Terroristen schossen von oben herab mit Kalaschnikows stundenlang in eine dicht an dicht im Parkett zusammengedrängte Menschenmenge von etwa tausend Personen.

Skizze
Gerichtsskizze vom 29. Juni 2022: Salah Abdeslam, ein überlebender Täter, über dem Prozess schwebend.
APA/AFP/BENOIT PEYRUCQ

Macht über Leben und Tod

Zeugen berichten, dass den Attentätern das Metzeln sichtlich Spaß bereitete. Sie genossen ihre Macht, über Leben und Tod zu gebieten, jemanden willkürlich zu erschießen, weil er sprach oder weil er schwieg, ganz egal. Die Opfer, Toten, Schwer- und Schwerstverletzte lagen schichtweise übereinander in Blut, zwischen abgeschossenen Gliedmaßen, zerfetzten Gesichtern, schrien, stöhnten, weinten. Viele erlebten einen der intimsten Momente, den Tod eines anderen Menschen, aber den eines unbekannten Menschen, den sie zuvor noch nie gesehen hatten.

Bei dem Versuch, aus dem Bataclan zu fliehen, trampelten manche der Flüchtenden andere Konzertbesucher zu Tode. Um 21.59 Uhr dringen ein Polizist und dessen Fahrer, beide mit kleinen Pistolen bewaffnet, zu dem Terroristen Samy Amimour vor und erschießen ihn. Guillaume, ein Bataclan-Besucher, den Amimour aus rätselhaften Gründen verschont hat, "hat gerade noch Zeit, in den Saal Richtung Notausgang zu springen, da explodiert der Sprengstoffgürtel des Terroristen und überzieht den ganzen Saal mit einem Schauer an Schraubbolzen, Daunenfedern und Fleischkonfetti. Stille."

Mitfühlende Haltung, klarer Blick

Es versteht sich, dass es einer großen technischen Fähigkeit und vor allem eines achtsamen Gewissens bedarf, um ein Inferno wie das im Bataclan nicht nur zu beschreiben, sondern mit Anstand zu beschreiben: ohne Sensationsgier, ohne geheuchelte Anteilnahme und andere vorgetäuschte Emotionen, in einer mitfühlenden Haltung, die aber den klaren Blick auf alle möglichen Spielarten von menschlichem Leid, Grausamkeit und Wahnsinn nicht verzerrt.

In diesen Künsten ist Emmanuel Carrère versiert. Es liegt eine Ironie durch Unterlassung darin, wenn ihn Chefredakteur Leménager in seinem Nachwort "nur" als perfekten Journalisten würdigt. Denn Carrère ist nicht nur ein perfekter Journalist, sondern auch ein exzellenter, hochproduktiver Schriftsteller. Mindestens fünfzehn Bücher hat er seit seinem Debüt Bravoure (1984) publiziert, daneben blieb ihm noch Zeit für etliche Reportagen und Dokumentarfilme. Was Carrère zur Ausnahmefigur macht, ist aber nicht bloß die Weitläufigkeit seines Œuvres, sondern die Originalität und der gewagte literarische Methodensynkretismus, mit dem er Reportage, historische Dokumentation, autobiografisches und "autofiktionales" Erzählen und Elemente anderer Textsortenzu einem mitreißenden Effekt und in eine Einheit zusammenführt.

Die Rolle des Autors

Die Frage, welche Rolle ein Autor selbst in seinen Werken zu spielen gedenkt, ist eine komplizierte ästhetische Herausforderung. Will er als Erzähler, gar als handelnde Person in Erscheinung treten, oder liegt ihm daran, sich unkenntlich zu machen, sich zu verbergen? Der Weltliterat Gustave Flaubert ließ sich beim Verfassen seiner Bücher (allen voran Madame Bovary, mit einer paradoxerweise unsterblich gewordenen Selbstmörderin als Titelheldin) von der Leitidee der "impassibilité" führen. Die Wörterbücher bieten Gleichmut, Emotionslosigkeit und Ähnliches als deutsche Äquivalente für den schillernden französischen Begriff an.

Für Flaubert hat sich der Autor zu verhalten wie ein verborgener Gott, ein Deus absconditus, der alle Fäden in der Hand hält, aber nichts von sich und seinen Emotionen zu erkennen gibt. Diese Denkweise war literaturhistorisch einflussreich und wurde etwa vorbildhaft für den "Nouveau Roman", der das Ziel verfolgte, den Autor überhaupt aus dem Text zu tilgen.

Selbstverständlich existiert diese Art des Schreibens weiter, aber in den zeitgenössischen literarischen Hitparaden Frankreichs sind derzeit auffällig viele Autorinnen und Autoren der autofiktionalen Schule vertreten: Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux, Didier Eribon, Édouard Louis. Selbst Michel Houellebecq, sonst dieser Art des Schreibens nicht zugetan, hat sich in seinem Roman Karte und Gebiet den Spaß gemacht, unter eigenem Namen aufzutreten (und auf originelle Art ermordet zu werden).

Während Houellebecq seinen Cameo-Auftritt in seinem Werk allerdings eher zu satirischen Zwecken verwendet, ist es Carrère um etwas anderes zu tun. Anders als Ernaux, Eribon oder Louis ist Carrères literarisches Erleben nicht von einer bescheidenen gesellschaftlichen Herkunft und all den damit verbundenen Defiziten geprägt. Er entstammt einer wohlhabenden großbürgerlichen Familie mit lange zurückliegendem georgisch-russischem Migrationshintergrund.

Carrères Familienprivilegien

Man lebt im noblen 16. Pariser Arrondissement, die Mutter, Hélène Carrère d’Encausse, ist eine renommierte Russlandhistorikerin, und, weit bedeutsamer noch: die erste Präsidentin der Academie Française. Der unbeschwerte Genuss dieser Familienprivilegien bleibt Carrère versagt. Zur Charakterisierung seines Lebensgefühls zitiert er den Satz von Sigmund Freud: Eine psychoanalytische Behandlung sei dann geglückt, wenn es gelingt, neurotisches Leid in normales Unglück umzuwandeln. Das normale Unglück, meint Carrère, sei ihm erspart geblieben, dafür wurde er vom Schicksal mit neurotischem Leid umso reichlicher bedacht. Sein Buch Yoga (2019) beginnt wie ein intelligenter, klischeefrei geschilderter Selbsterfahrungstrip mit starken New-Age-Akzenten, endet aber nicht in einer strahlenden Nirwana-Erfahrung, sondern nimmt eine unvermutet ungute Wendung.

Eine psychische Krise Carrères wächst sich so unkontrollierbar aus, dass er stationär in psychiatrische Behandlung eingeliefert werden muss. Erst eine Elektroschockbehandlung (mit heftigen Kurzgedächtnisverlusten als Folge) und eine Lithiumtherapie ermöglichen es ihm, seine bipolare Erkrankung halbwegs in den Griff zu bekommen. Die Schilderungen von Carrères psychischen Zuständen und den Details in der Psychiatrie sind dabei von erschreckender Intensität.

Schreiben als Kampf gegen die eigenen Dämonen ist die eine Übung Carrères, aber sein Schreiben erschöpft sich nicht darin. Seinen Durchbruch als Autor erreicht er 1999 mit dem Roman Der Widersacher. Darin behandelt er ein "Fait divers", eine (bizarre) chronikalische Geschichte: Der bei der WHO tätige Arzt Jean-Pierre Romand ermordet eines Tages wie aus heiterem Himmel grundlos seine Frau, seine beiden Kinder und die Eltern.

Carrère erfährt aus den Medien von dem Fall, nimmt Kontakt mit Romand auf. Dieser ist bereit, mit ihm zu reden, und Carrère macht sich daran, die Geheimnisse von Romands fassadenhafter Doppelexistenz zu ergründen und dessen Beweggründe zu erforschen. Er recherchiert bei Richtern, Anwälten, Journalisten, aber immer, wenn er seine Erkenntnisse zu Papier bringen will, beginnt es zu hapern.

Carrère findet keine Form, die zu den Inhalten passt, und als er an seinem Projekt zu verzweifeln beginnt, fällt ihm mit einem Mal, wie ein magisches Geschenk, ein erster Satz ein: "Während Jean-Claude Romand am Samstagmorgen, den 9. Januar 1993, seine Frau und seine Kinder tötete, saß ich mit meinen in einer Versammlung der Schule unseres älteren Sohnes."

Emmanuel Carrère, "V13 – Die Terroranschläge in Paris". € 25,– / 275 Seiten. Übersetzung: Claudia Hamm. Matthes & Seitz, 2023.
Matthes & Seitz Berlin

Tatsachenroman in Ich-Form

Dieser Satz wird für Carrère zum Schlüssel fürs Weiterschreiben, für das Fortführen und Zu-Ende-Bringen seiner Arbeit. Er bringt eine neue Perspektive ins Spiel, bei der nicht mehr nur Romand als Gegenstand der Beschreibung firmiert, sondern auch der, der ihn beschreibt. Die Erforschung des anderen wird zur Erforschung des Selbst und zum Nachdenken darüber, was dieses Erforschen "mit einem macht". In einem aufschlussreichen Interview mit seiner Übersetzerin Claudia Hamm, abgedruckt im Widersacher,ist von dieser Art des Arbeitens nicht als "Autofiktion" die Rede, sondern, durchaus eine formale Novität, von einem "Tatsachenroman in Ich-Form."

Meist sind die Tatsachen, mit denen sich Carrère auseinandersetzt, in schweres Leid getränkt: das Leid eines Ehepaares, dessen vierjährige Tochter 2004 beim Tsunami im Indischen Ozean ums Leben kam, das Leid zweier krebskranker Juristen, die beide eine Vermenschlichung des Rechtssystems anstreben, und von denen eine frühzeitig stirbt (Alles ist wahr, 2014), das Leid der russischen Bevölkerung in Limonow (2011), das Leid von Flüchtlingskindern in Griechenland (Yoga) und so fort. Wäre Carrères Arbeitsweise eine Masche, sich mit der Ausbeutung von Opfern interessant zu machen, sie wäre unerträglich. Aber Carrère blufft nicht, er täuscht nichts vor, es geht ihm, etwas pathetisch formuliert, einfach darum, in die hellsten und dunkelsten Ecken der menschlichen Existenz vorzudringen und zu verstehen. Seine Behauptung "Mein Zuständigkeitsbereich ist das Nichtlügen" wirkt absolut glaubwürdig und ist durch die Wahl seiner Sprache gedeckt: beweglich und klar, unprätentiös, lebendig, elegant und deswegen so mitreißend, weil man ihr stets anmerkt, dass sie im Dienst dieser Sache steht: dem näherzukommen, was man pauschal "die Realität" nennt.

Schwache Jihadisten-Signale

In der Realität jenes schauerlichen 13. November war vieles möglich: die unerhörteste Brutalität, aber auch hilflose kleine Gesten der Zuwendung und des Trostes. Der psychische Fallout der Attentate ist nicht zu ermessen: die Ängste, die posttraumatischen Belastungsstörungen, die Depressionen und Aggressionen. Ein junger Mann namens Antoine Leiris, dessen Frau ermordet wurde, hat ein Buch mit dem Titel Meinen Hass bekommt ihr nicht geschrieben; ein anderer, der bullige, politisch rechts stehende Patrick Jardin, der seine Tochter verloren hat, lässt seinem Hass freien Lauf: "Die Leute sagen, ich sei rechtsextrem, und vielleicht stimmt das, keine Ahnung, aber selbst wenn ich es wäre, macht das meine Tochter weniger tot?"

Zwei der Angeklagten werden zu lebenslanger Haft verurteilt, einer von ihnen, Salah Abdeslam, der sinistre "Star" des Prozesses, ohne die Möglichkeit, je wieder freizukommen. Obwohl ihr Leben von oben bis unten durchleuchtet wurde, sind viele der Jihadisten auch nach dem Prozess undurchsichtige junge Männer geblieben, "Individuen, die aus dem Nichts kommen und die nur schwache Signale aussenden", wie es ein Staatsanwalt, François Molins, formuliert.

Undurchsichtig, aber in einem gewissen Sinn nicht uninteressant, meint Carrère. "Das, was an ihnen interessant ist oder zumindest mich interessiert, spielt sich nicht auf der Ebene des Individuums ab, sondern auf der der Geschichte – mit all ihren Schichten. Was mich interessiert, ist der lange historische Prozess, der diese pathologische Mutation des Islam hervorgebracht hat." Wird Carrère sein Interesse vertiefen und literarisch bearbeiten? Davon wäre einiges zu erwarten. (Christoph Winder, 5.8.2023)