Picassos Tomaten
Das am 4. August 1944 von Picasso gemalte Stillleben kam im November 1999 bei Christie's zur Auktion, wo es Heidi Horten für umgerechnet 1,88 Millionen Euro ersteigerte. Rückblickend ein Schnäppchen.
Heidi Horten Collection; Sucessi

Paris im Sommer 1944, nachdem die Alliierten im Juni in der Normandie gelandet waren: Brassaï, der aus Ungarn gebürtige Fotograf, trifft oder besucht Pablo Picasso regelmäßig. Aus ihrer Bekanntschaft war in den 1940er-Jahren eine enge Freundschaft geworden. Dann und wann entstehen Aufnahmen wie jene, die Picassos abgemagerten Hund auf einem kleinen Teppich im Atelier zeigt. Die Versorgungsnot in der seit Juni 1940 von den deutschen Truppen besetzten Metropole hatte sich gravierend verschlimmert.

Zivilisten hungern, denn Lebensmittel sind streng rationiert und auf dem Schwarzmarkt kaum noch bezahlbar. Der Anbau von Gemüse auf Fenstersimsen, Balkonen oder Dächern gehört quasi zum Alltag. Eine der Not geschuldete Selbstversorgung, die als "patriotisch" gilt und Moral wie Zusammenhalt unter Betroffenen stärkt.

Pablo Picasso
Das Naziregime belegte Pablo Picasso mit Ausstellungsverbot. Seiner Produktivität tat das in den Kriegsjahren keinen Abbruch.
- / AFP / picturedesk.com

Juli/August 1944

Picasso selbst zieht Tomaten auf seiner Fensterbank. Ein Geschenk seiner Lebensgefährtin Marie-Thérèse, vermutet Brassaï, der das Auftauchen des neuen "Motivs" am 16. Juni 1944 für seine späteren Picasso-Memoiren notiert: "An den langen Stängeln, die kaum von den Blättern verdeckt werden, beginnen einige Tomaten zu reifen und färben sich von zartem Grün zu Orange. Das Atelier ist bereits mit Zeichnungen und groben Gouachen gefüllt, die diese Pflanzen darstellen."

Die Gouachen sind in der Literatur nicht dokumentiert, gesichert ist, dass die zu dieser Zeit begonnene Werkgruppe mit Tomatenpflanzen am Ende vier Kreidezeichnungen, zwei geometrische Darstellungen sowie neun Gemälde umfassen wird, die vom 27. Juli bis zum 12. August 1944 entstehen. Die zwischen 3. und 12. August gemalten Stillleben eint auch das Maß: 73 mal 92 oder 92 mal 73 cm, je nachdem, ob Picasso sich für ein Quer- oder Hochformat entscheidet.

Früchte vor kubischem Hintergrund

Auf der Rückseite der Bilder vermerkt er das jeweilige Datum, womit die Abfolge der Bilder exakt dokumentiert wird. Das erste der Stillleben, die sich in Abstraktion und den Stadien der Pflanze unterscheiden, stellt er am 3. August fertig: Die Zweige biegen sich unter dem Gewicht der zum Teil bereits reifen Früchte, sattes Rot und Grün betonen die Fruchtbarkeit, der in Grautönen gehaltene Hintergrund symbolisiert gleichsam die Düsternis der letzten Kriegswochen. Carafe et plant de tomate ist jenes Bild betitelt, das 2004 für umgerechnet 3,4 Millionen Euro (inkl. Aufgeld) via Sotheby’s den Besitzer wechseln wird.

Anderntags entsteht eine Variation, in der die Pflanze vor der grauen, kubistisch aufgelösten Steinarchitektur des geöffneten Fensters dominiert. Fragmente des blauen Himmels sind erkennbar, die roten Früchte leuchten im Sonnenlicht. Dieses Bild vom 4. August 1944 kommt 1999 bei Christie's zur Auktion: 1,88 Millionen Euro bezahlt Heidi Horten für das Stillleben, das aktuell in ihrem Museum in der Ausstellung Rendez-vous zu sehen ist (bis 29. 10.).

Picasso's 'Plant de Tomates' – A Symbol of Wartime Resistance and Hope
In this film, Sotheby’s Sam Valette discovers the apartment building where Picasso lived during WWII and the atelier where Cecil Beaton photographed him following the Liberation, and where he painted Plant de Tomates, a highlight of Sotheby’s Impressionist & Modern Art Evening Sale in London.
Sotheby's

Irdische Metapher

Für die Version vom 10. August 1944 wird Christie's 2006 dagegen 10,54 Millionen Euro erzielen. Den mit Abstand höchsten Kaufpreis für ein Werk aus der Serie verbucht Sotheby’s 2017 für das Hochformat vom 6. August 1944 mit 19,84 Millionen Euro.

Ein stolzer Preis für eine "Tomatenpflanze", die für die alltägliche Not des Zweiten Weltkrieges steht? Picasso habe sie "nicht als Entbehrung, sondern als Quelle der Bewunderung" dokumentiert, "als irdische Metapher für das menschliche Bedürfnis zu überleben und zu gedeihen – selbst unter den Zwängen des Krieges", wie es die Kunsthistorikerin Jean Sutherland Boggs 1992 formulieren wird.

Während die Tomaten auf Picassos Fensterbank reifen, nähern sich die Alliierten sukzessive den Außenbezirken von Paris. Am 10. August 1944 streiken die französischen Eisenbahner, fünf Tage später die Pariser Polizei. Schließlich stellt die Metro ihren Betrieb ein. Es kommt zu ersten Straßenkämpfen, von denen auch Picasso betroffen ist. Als er einen Blick aus seinem Atelierfenster wirft, verpasst ihn eine Gewehrkugel nur knapp.

Screenshot
Das bislang teuerste Werk aus der Serie: Im März 2017 erzielte Sotheby's London für das am 6. August 1944 von Picasso fertiggestellte Stillleben umgerechnet 19,84 Millionen Euro.
Sotheby's

Letzte Kriegstage

Picasso quartiert sich für einige Tage bei Marie-Thérèse und ihrer gemeinsamen Tochter Maya ein. Auch dort erntet man Tomaten vom Fenstersims, während sich die Lage in Paris zuspitzt. Am 19. August beginnt der Aufstand der französischen Widerstandskämpfer, die den Großteil der Stadt innert kurzer Zeit kontrollieren. Die Kapitulation der Deutschen erfolgt schließlich am 25. August 1944.

Drei Tage vergehen, bis Picasso in sein Atelier zurückkehrt, wo ihn Freunde wie Ernest Hemingway und Lee Miller erwarten. Das vom Naziregime auferlegte Ausstellungsverbot ist nun Geschichte. Ein Jahr später wird Picasso einen kleinen Teil seiner "Kriegsproduktion" zugunsten spanischer Hilfsmaßnahmen verkaufen: auch eines seiner Tomatenbilder, jenes vom 7. August 1944, für das Sotheby's 2004 5,65 Millionen Euro einspielen wird. (Olga Kronsteiner, 4.8.2023)