Locarno
In "Animal" ist ein All-inclusive-Hotel kein glücklicher Ort.
Filmgarten

Leoparden sind edle Tiere, zumal wenn sie golden sind. In Locarno schleicht das Wappentier des Filmfestivals derzeit durch die Kinos und brüllt von der Leinwand herunter. Wohin der Pardo d'oro seine Reise dieses Jahr antreten wird, wissen wir nach der Preisverleihung am kommenden Samstag. Als Wettbewerbsbeitrag mit dem passendsten Titel hat Animal durchaus Chancen. Die griechisch-österreichische Koproduktion mit der Salzburger Nabis Film (rund um Filmemacher Lukas Valenta Rinner) ist das Spielfilmdebüt der Regisseurin Sofia Exarchou. Darin entführt sie in ein griechisches All-inclusive-Hotel.

Kalia ist die Veteranin einer Truppe von Animateuren, die dort die Gäste bei Laune halten sollen. Wie eine Zirkusfamilie stehen sie gemeinsam auf der Bühne, tanzen mit den Touristen und leben, lieben, trinken nach getaner Arbeit gemeinsam. Es ist ein harter Job, das Lächeln im Gesicht zu halten. Das lernt auch Eva, die Neue aus Polen.

Kraftverlust und Ausbruch

Und sie lernt schnell, während Kalia irgendwann nicht mehr die Kraft hat und aus dem Hotel flüchtet. Dieser Ausbruch, der zugleich ein Zusammenbruch ist, passiert sehr spät in der Geschichte, man wünscht Kalia und dem Film dabei eine frühere Auferstehung. Unter Touristen auf der Insel trifft sie nämlich Jonas aus Linz, eine gute Seele, verkörpert von Neo-Schauspieler Voodoo Jürgens. 30 Minuten vor Ende hat er einen kurzen, aber freizügigen Auftritt – eine wunderbare Szene zwischen ihm und der phänomenalen Hauptdarstellerin Dimitra Vlagopoulou. Ihre Karaoke-Performance zu Yes Sir, I Can Boogie hat das Zeug zum schönsten traurigen All-inclusive-Musikmoment seit Aftersun und Rimini.

Einen Gegenpol zur verzweifelten Partystimmung liefert Stepne aus der Ukraine. Und nein, es ist kein Kriegsfilm. Regisseurin Maryna Vroda, die in Berlin studierte, erzählt in der deutschen Koproduktion vom Abschiednehmen. Ein Sohn pflegt seine sterbende, demente Mutter. Die beiden leben in einem entlegenen Dorf, gedreht wurde in Lebedyn, Sumy, westlich von Charkiw. Geblieben sind hier nur mehr die alten Menschen, die Jungen sind schon lange fort. Als die Mutter stirbt, kommt auch zweite Sohn, und die beiden lösen nicht nur den Haushalt, sondern auch ihre Vergangenheit auf.

Stepne ist nicht nur ein ungemein leiser Film auf den Spuren von Andrei Tarkovsky. Vroda bewegt sich auch immer wieder auf dokumentarischem Gebiet. Etwa wenn sie eine 89-Jährige vom Holodomor der Sowjetzeit erzählen lässt. Die Endgültigkeit dieses winterlichen Abschieds lässt sich dann doch auch politisch verstehen. Es gibt kein Zurück mehr, und Sentimentalität ist ein Luxus, den sich die Zurückgebliebenen nicht leisten können.

Auf der Flucht vor einem immerwährenden Krieg ist dagegen der junge Soldat Shlomi im israelischen Wettbewerbsbeitrag The Vanishing Soldier. Der Deserteur kämpft sich durch Tel Aviv wie durch ein urbanes Kriegsgebiet zurück zu seiner Freundin. Als das Militär sein Verschwinden groß als Gefangennahme verkündet, hat er ein Problem. Regisseur Dani Rosenberg inszeniert die 24 Stunden als eine temporeiche, tragisch-komische Tour de Force, die zugleich immer wieder die Farce des Propagandakrieges aus dem Fernseher tönen lässt.

Kraft und Geduld

So unterschiedlich die Stimmung ist, die diese rohen Wettbewerbsfilme im sonnigen Locarno erzeugen, sie haben eines gemeinsam: Sie sind ebenso unbalanciert wie ihre Figuren, brauchen lange, bis sie wirklich Fahrt aufnehmen. Dann entwickeln sie jedoch eine Kraft, die nachwirkt. Das Festival von Locarno ist das kleinste unter den großen europäischen Filmfestivals. Mit den Dokus Vista Mare und Archiv der Zukunft stehen in der Sektion "Semaine de la Critique" bis Samstag noch zwei weitere österreichische Produktionen an, es warten zudem weitere Wettbewerbs-Highlights auf dem Programm. Noch muss sich der goldene Leopard also gedulden. (Marian Wilhelm aus Locarno, 7.8.2023)