Hilfsorganisationen haben den Halbjahrestag der Erdbebenkatastrophe in der Türkei und Syrien zum Anlass genommen, um auf die miserable Situation hinzuweisen, in der viele Bewohner und Bewohnerinnen der betroffenen Gebiete weiterhin leben. Am 6. Februar und bei Nachbeben wurden in der Türkei 60.000 Menschen und in Syrien etwa 8.500 – eine eher konservative Schätzung – getötet. Viele mussten in den Trümmern sterben, weil die Hilfe zu spät kam.

Ein Bub vor Erdbebenruinen in Samandag in der Türkei 
Die Ruinen sind auch ein halbes Jahr nach dem Erdbeben nicht beseitigt, hier Arbeiten in Samandag in der Türkei.
AFP/OZAN KOSE

Hunderttausende haben sechs Monate danach noch immer kein festes Dach über den Kopf. Auch die öffentliche Infrastruktur wie die Wasserversorgung ist noch immer bei weitem nicht überall hergestellt. Tausende Zelte überziehen etwa auch die türkische Provinz Hatay, wobei sich viele Überlebende ohnehin bei Verwandten in anderen Landesteilen aufhalten.

Die Wiederaufbaupläne der Regierung in Ankara sehen eine eigene finanzielle Beteiligung der Opfer für die Kosten vor, als zurückzuzahlenden Kredit. Bei weitem nicht alle werden sich das leisten können.

Rebellengebiete betroffen

Während die internationale Unterstützung für die Türkei nach dem Beben sofort anrollte, gestaltete sie sich für das Bürgerkriegsland Syrien auch aus politischen Gründen schwierig. Das Regime von Bashar al-Assad ist im Westen isoliert. Die Katastrophe traf zum Teil Gebiete, die von unter türkischem Schutz stehenden Rebellen kontrolliert werden. Assad hatte wenig Interesse daran, dass diese Menschen an ihm vorbei versorgt werden.

Um den Grenzübergang Bab al-Hawa von der Türkei in die syrischen Erdbebengebiete gibt es ein ständiges Gezerre. Russland sperrte sich im Juli im Uno-Sicherheitsrat dagegen, ihn für Hilfslieferungen weitere neun Monate offen zu halten. Momentan erlaubt Assad sie gnadenhalber dennoch.

Die Systeme in der Türkei, wo Ende Mai Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seine AKP wiedergewählt wurden, und in Syrien, in dem jede Wahl eine völlige Farce ist, lassen sich nicht vergleichen. Beide Staaten verbindet jedoch, dass die Katastrophe die bestehende Macht konsolidierte bzw. stärkte.

In der Türkei betont der gescheiterte Herausforderer Erdoğans, Kemal Kı lıçdaroğlu, zum wachsenden Ärger seiner Partei zwar immer wieder, dass die Opposition seit dem Aufstieg Erdoğans noch nie so nah an einem Sieg war. Im Lichte des Staatsversagens, welches das Erdbeben im Februar offenbar machte, hatte sich jedoch niemand vorstellen können, dass Erdoğ an in den betroffenen Gebieten nicht haushoch verlieren würde.

Die Macht wird gewählt

Aber im Gegenteil, Erdoğan, der in den größeren Städten an Zustimmung eingebüßt hat, hat in den Erdbebengebieten die Wahlen gewonnen. Ein Teil der Wählerschaft entscheidet sich in einer existenzbedrohenden Krise für jenen Kandidaten, der bereits die meiste Macht im System hat.

Erdoğan hat die Türkei in den vergangenen Jahren in Richtung Autokratie geführt, er beherrscht den öffentlichen Raum, seine Parteigänger sitzen an den Quellen dessen, was die Menschen in Not brauchen. Die Abstrafung für alles, was schiefgegangen ist – die Dysfunktionalität, die Korruption, die die Erdbebensteuer in dunkle Kanäle anstatt in einen sicheren Wohnbau fließen ließ –, muss warten. Die Erfüllung der Wahlversprechen auch.

In jeder Hinsicht noch eklatanter ist der Fall Syrien. Der sogenannte Arabische Frühling 2011 führte dort zu einem demokratischen Aufstand, der von außen unterstützt wurde – von der Türkei, aber auch von den arabischen Golfstaaten.

Die Araber hofften, durch den Sturz Assads dessen Verbündeten Iran aus Syrien, aber auch aus dem Libanon zu verdrängen. Das ist nicht gelungen. Assad wurde durch iranische und russische Intervention gerettet. Die Araber saßen auf den Trümmern ihrer Politik.

Arabischer Politikwechsel

Das Erdbeben im Februar half ihnen dabei, gesichtswahrend mit dieser Politik abzuschließen. Tage nach dem Erdbeben strömten arabische Außenminister nach Syrien und brachten humanitäre Hilfe mit.

Im Mai wurde das mehr als zehn Jahre suspendierte Syrien bei einem Gipfel in Saudi-Arabien wieder in die Liga der Arabischen Staaten aufgenommen, Assad wurde dort wärmstens empfangen. Zwar ist der große Fluss von Geld und Zusammenarbeit mit Syrien bisher ausgeblieben, aber die Aufwertung des Assad-Regimes durch die Normalisierung ist dennoch enorm.

Und es ist eine Schwächung der Isolationspolitik Europas und der USA vis-à-vis Syrien – und ein Geschenk für Russland. Im Nordosten Syriens berichtet die US-Armee, die dort mit etwa 900 Soldaten die kurdischen YPG-Milizen gegen den "Islamischen Staat" unterstützt, von wachsenden Provokationen durch die russische Luftwaffe. Eine russisch-syrische Offensive östlich vom Euphrat, um das Gebiet wieder Assads Herrschaft einzuverleiben, wird nicht ausgeschlossen. Auch der Druck auf die Türkei wächst, die den Nordwesten und Teile der Provinz Idlib kontrolliert. (Gudrun Harrer, 8.8.2023)