Niamey – Die Städte Arlit und Agadez würde wohl kaum jemand in Europa auf einer Landkarte finden. Und die Orte aus vornehmlich niedrigen Lehmhäusern sind auch nach den Verhältnissen des 25-Millionen-Einwohner-Staats Niger nicht gerade das, was man als riesige Bevölkerungszentren verstehen würde. Und doch sind beide für Europa vielleicht wichtiger als so manche Hauptstadt. Arlit ist jener Ort, in dem im vergangenen Jahr rund 25 Prozent des Atomstroms ihren Ursprung hatten, der aus Steckdosen in der EU floss. Die Stadt ist Heimat einer großen Uranmine, die bisher vom französischen Konzern Orano geführt wird (der bis vor kurzem unter dem bekannteren Namen Areva firmierte). Agadez wiederum ist einer der wichtigsten Zwischenstopps auf den Migrationsrouten aus dem Süden des Kontinents über Libyen, Tunesien und Algerien nach Europa. Und nicht nur das: Auch ist es einer der wichtigsten Stützpunkte des US-Militärs in der Region, das mit rund 1.000 Soldatinnen und Soldaten von dort aus seinen Drohnenkrieg gegen Islamisten in der Sahelzone führt.

Stacheldraht und Wüste.
Wenig zu sehen, aber viel Ergebnis: Rund 25 Prozent der Uranlieferungen nach Europa kamen im Jahr 2022 laut Zahlen von Euratom aus Arlit im Niger.
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Der Niger, wenn auch wenig bekannt, ist von zentraler Bedeutung – für die Interessen Europas, jene der USA und daher auch für Russland, das über die Söldnertruppe Wagner Putsch um Putsch versucht, in der Region Frankreich, die Europäer und die USA als Partner der Sahel-Staaten zu verdrängen. Es ist oder war auch einer der wenigen demokratischen Sicherheitsanker für jene Partnerstaaten im regionalen Bund Ecowas, die selbst noch an der Demokratie festhalten. Auch deshalb folgten nach dem Putsch der Armeeführung gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Mohammed Bazoum vor rund zwei Wochen zahlreiche Gesprächsrunden. US-Vizeaußenministerin Victoria Nuland war in der Nacht auf Dienstag in Niamey. Sie wurde vom selbsternannten Verteidigungsminister Moussa Barmou und weiteren drei Obersten empfangen – nicht aber vom Chef der Putschisten, Abdourahamane Tiani. Über die Ergebnisse und Themen des Treffens wurde wenig bekannt. Folgende Themen könnten aber die Knackpunkte sein.

1. Die Geopolitik

Es war in den ersten Tagen so etwas wie der Refrain, wenn es in den Pressekonferenzen des Weißen Hauses und des US-Außenministeriums um den Putsch im Niger ging: "Wir haben keine glaubhaften Hinweise darauf gesehen, dass Russland oder die Wagner-Gruppe in den Putsch involviert waren." Vielmehr ging man in Washington davon aus, dass der Anlass für den Umsturz allgemeine Unzufriedenheit der Armee mit der Performance von Präsident Bazoum war – und, vor allem, dessen Plan zu einer Reform der Streitkräfte, die vielen der nunmehrigen Putschisten ihren Job gekostet hätte. Damit ist aber nicht gesagt, dass Russland nicht tunlichst versucht, vom Putsch zu profitieren. Zwar hat Moskau den Umsturz offiziell verurteilt, die Wagner-Gruppe, die weiterhin als militärischer Arm Russlands in vielen afrikanischen Ländern auftritt, hat ihn aber gutgeheißen.

Dazu kommt, dass die Putschisten selbst schnell versuchten, von antifranzösischen Ressentiments in der Bevölkerung zu profitieren. Sie ließen ihre Anhängerschaft auch mit russischen Flaggen zu Demonstrationen aufmarschieren, um die Gegnerschaft zu Paris zu unterstreichen. Seither gibt es offenbar auch zunehmende Kontakte zu Wagner-Vertretern. Und anders als Nuland wurden Delegationen aus den beiden Nachbarstaaten Mali und Burkina Faso am Dienstag sehr wohl vom Putschpräsidenten Tiani empfangen.

Unterstützer der nigrischen Junta mit russischen Flaggen.
Unterstützer der nigrischen Junta mit russischen Flaggen. Auch wenn der Putsch nicht von Moskau ausgegangen sein dürfte, weiß Russland ihn zu nutzen.
AFP/-

Diese beiden Länder gelten seit Umstürzen 2021 und 2022 als Verbündete Russlands und Wagners in der Region, sie kooperieren offen mit der Söldnerarmee. Dazu kommt, dass Wagner auch beim Putsch in Guinea im Jahr 2021 die Finger im Spiel gehabt haben dürfte – ebenso wie im Sudan, als vor wenigen Monaten der demokratische Übergang in den brutalen Krieg zwischen zwei Spitzenmilitärs eskalierte. Russlands Einfluss erstreckt sich damit nahezu auf das gesamte Band zwischen Atlantik und Indischem Ozean in der afrikanischen Sahel-Zone.

2. Demokratie in der Region

Dazu kommt, dass auch abseits des Kreml-Einflusses die Sorge um die Demokratie in Afrika wächst. Nicht nur in Guinea, Mali und Burkina Faso hat es zuletzt Umstürze gegeben – auch anderswo ist die Regierungsform auf dem Rückzug. Tunesien und Ägypten haben ihre Regime zuletzt massiv autoritärer gestaltet, dass Äthiopiens Premier, der Friedensnobelpreisträger Abiy Ahmed, so schnell einmal wieder wählen lassen wird, gilt nicht als wahrscheinlich. Im Sudan führte ein Putsch gegen die Demokratie zum Bürgerkrieg, anderswo ist die Machtübernahme durch die Militärs gerade noch einmal gescheitert: So etwa zuletzt in Gambia und in Guinea-Bissau.

Die Sorge, dass der nächste Umsturz eine Kettenreaktion auslösen könnte, lässt auch in den noch demokratischen Staaten der Regionalorganisation Ecowas die Rufe nach einer Intervention lauter werden. Zu der Staatengruppe gehören unter anderem die noch recht stabilen Demokratien Ghana, Côte d'Ivoire und Senegal. Ihr größtes und wichtigstes Mitglied ist Nigeria, wo vor wenigen Monaten heftig umstrittene Präsidentenwahlen stattgefunden haben. Deren Sieger Bola Tinubu gehört dem Vernehmen nach dennoch zu den größten Verfechtern einer Militäraktion im Nachbarland. Allerdings stößt er offenbar bei seinen Überzeugungsversuchen auf großen Widerstand im Inland.

3. Sicherheit und Islamismus

Rund 1.000 Angehörige der US-Armee befinden sich – noch immer – im Niger, etwa gleich viele Soldaten aus Frankreich sind auch noch dort. Beide Staaten sehen, oder sahen, den Staat als ihren wichtigsten verbleibenden Stützpunkt im Kampf gegen den militanten Islamismus in der Region. Niger war in dieser Hinsicht vor allem deshalb besonders wichtig, weil die anderen umliegenden Staaten nach und nach ausgefallen sind. Aber auch, weil er zentral zwischen mehreren Gebieten liegt, in denen islamistische Gruppen Gebiete und Macht anstreben. Fünf Zonen islamistischer Gewalt im Sahel-Gebiet fand der US-Thinktank Africa Center for Strategic Studies im Jahr 2022. Gleich drei davon grenzen direkt an den Niger.

Französische Soldaten und ein Panzerfahrzeug im Niger.
Französische Soldaten müssen zunehmend ihre Basen in der Sahelzone verlassen, von wo aus sie zuletzt den militanten Islamismus bekämpft hatten. Im Niger sind sie (noch) im Einsatz.
APA/AFP/Thomas Coex

Als besonders bedrohlich gelten die Gruppen Dschamaat Nusrat al-Islam wal-Muslimin (JNIM) und "Islamischer Staat in der Sahara" (ISGS), die vor allem westlich vom Niger in Burkina Faso und Mali aktiv sind. Während ISGS – wie der Name andeutet – mit der Terrorgruppe "Islamischer Staat" (IS) verbündet ist, gilt JNIM als eine Filiale der Tochterorganisationen der Al-Kaida. Dazu kommt die nigerianische Gruppe Boko Haram, die zwar eher in der nigerianischen Grenzregion nahe dem Tschad und Kamerun aktiv ist, gegen die allerdings auch Niger ein Bollwerk sein sollte. Zudem ist das Land von den Fluchtbewegungen betroffen, die der Kampf zwischen nigerianischem Militär und Boko Haram ausgelöst hat. Mehrere Hunderttausend Menschen waren zum Höhepunkt der Krise 2016 aus Nigeria in die umliegenden Staaten geflohen.

4. Energie und Rohstoffe

Einmal schon war das Thema Uran im Niger in aller Munde: Das war im Jahr 2003, als die US-Regierung von Präsident George W. Bush mit der Lüge, der Irak habe im Niger Uran kaufen wollen, die Mär der irakischen Massenvernichtungswaffen stützten und so in den Krieg ziehen wollte. Seither ist es eher still geworden, oft auch zum Leidwesen der örtlichen Bevölkerung: In den Uranminen von Arlit, wo die weltweit zweitgrößten Vorkommen des radioaktiven Materials nachgewiesen wurden, soll man es nämlich mit der Sicherheit nicht immer so ernst genommen haben. Radioaktiver Staub vom Abbau des Materials soll dort immer wieder in die Luft gelangt sein und der Bevölkerung Schaden zufügen, hieß es immer wieder.

Zu einem Stopp der Produktion hat dies bisher freilich alles nicht beigetragen. Rund 25 Prozent des in Europa 2022 importierten Urans stammten, laut Angaben der Agentur Euratom, aus dem Niger. Das riesige Vorkommen in Imouraren wollen französische Firmen gemeinsam mit Partnern aus Südkorea und aus dem Niger selbst abbauen. Bisher, so heißt es bei der zuständigen Firma Orano, ist es dabei auch noch nicht zu Unterbrechungen gekommen. Wie es weitergeht, ist freilich offen. Dass Russland, sofern es im Niger denn wirklich an Einfluss gewinnt, sich den Rohstoff für seinen Energiekrieg gegen den Westen zunutze macht, ist jedenfalls nicht ausgeschlossen. Zwar hätte Europa dann Ausweichquellen: Allerdings stehen auch die alternativen Lieferanten Kasachstan und Usbekistan unter russischem Einfluss, viertgrößter Exporteur in die EU war zuletzt Russland selbst. Zu kaufen gibt es Uran auch etwa in Kanada, Australien, Südafrika oder Namibia, geschlossene Minen gibt es auch innerhalb der EU. Würde man aber nur noch auf diese Quellen setzen, wäre der Kauf aber freilich teurer.

Dazu kommt, dass in den Böden des kargen Staates noch zahlreiche weitere Bodenschätze vermutet werden, etwa solche, die Europa für die digitale Transformation brauchen würde. Zumindest wird der Putsch nun auch die Erkundung der Böden verlangsamen.

5. Migration

Last, but not least fürchtet die europäische Außenpolitik auch noch um ein Feld, das ihr zuletzt besonders wichtig war: die Migration. Der Niger galt zwar bisher nicht als Staat, aus dem Menschen in großen Mengen den Weg nach Europa beschritten – wohl aber befindet sich das mitten in der Sahel und der Sahara gelegene Land auf einer der wichtigsten Transitrouten nach Europa. Sowohl Agadez als auch Arlit gelten als wichtige Zwischenstopps, von denen aus sich Migranten weiter auf den Weg Richtung Libyen, Tunesien und Algerien machen. Die UN-Migration-Organisation IOM betreibt dort zahlreiche Büros, die gestrandete Migrantinnen und Migranten mit dem Nötigsten versorgen sollen.

Wichtig ist das auch, weil immer mehr Menschen tatsächlich im Niger hängen bleiben. Auf Druck der EU hat das Land seinen eigenen Bürgern im Jahr 2015 verboten, Ausländer gegen Geld an die Grenzen des Landes zu transportieren. Zugleich ist der Niger das Ziel von Pushbacks, bei denen in Algerien, Tunesien und dann Libyen abgewiesene Menschen zurück in die Wüstengebiete gebracht werden. (Manuel Escher, 8.8.2023)