"Geliebte Schwester, heute sind tausend Tage vergangen, seit du entführt wurdest", spricht Tatsiana Chomitsch, die Schwester von Maria Kolesnikowa, in die Kamera. Es ist eine rührende Videobotschaft, veröffentlicht vor einigen Wochen. "Seit tausend Tagen können wir uns nicht sehen und umarmen, stundenlang reden, uns nicht mit der Familie treffen." Die letzte Nachricht von ihrer Schwester, eine Postkarte aus dem Straflager, erhielt Tatsiana Chomitsch im Februar. Seitdem kamen keine Briefe mehr, keine Besuche sind möglich, auch die Anwälte dürfen nicht zu ihr. Maria Kolesnikowa, die Ikone der Massenproteste in Belarus, ist verschwunden.

Maria Kolesnikowa karlspreis belarus
Als Maria Kolesnikowa gemeinsam mit Weronika Zepkala und Swetlana Tichanowskaja 2022 den renommierten Karlspreis erhält, ist sie selbst nicht dabei. Stattdessen hält ihre Schwester Tatsiana Chomitsch ein Bild von ihr hoch.
APA/AFP/SASCHA SCHUERMANN

Alles begann am 9. August vor drei Jahren mit der Präsidentschaftswahl. Gegen Machthaber Alexander Lukaschenko, den "letzten Diktator Europas", wollen drei Männer antreten: der Unternehmer und Ex-Diplomat Waleri Zepkalo, der Blogger Sergej Tichanowski und der Banker Wiktor Babariko. Keiner der drei schafft es auf die Kandidatenliste. Zepkalo flieht noch vor der Wahl ins Ausland. Tichanowski und Babariko landen nach fadenscheinigen Anklagen hinter Gittern. Doch die Frauen übernehmen. Swetlana Tichanowskaja, die er angeblich ein "armes Ding" nannte, lässt Machthaber Lukaschenko als Kandidatin zu. Weronika Zepkala und Maria Kolesnikowa, Babarikos Wahlkampfmanagerin, unterstützen sie. Das Foto der drei Frauen geht um die Welt. Maria formt mit ihren Händen ein Herz. Eine Geste, die ihr Markenzeichen wird.

Dreist manipuliert Lukaschenko das Wahlergebnis zu seinen Gunsten. Doch viele sehen Swetlana Tichanowskaja als die wahre Siegerin, gehen für sie auf die Straße. Aus Tausenden werden Hundertausende, die monatelang demonstrieren. Immer mittendrin: Maria Kolesnikowa, ausgelassen singend und tanzend, auf dem Akkordeon begleitet von einem Freund. Auch als Weronika Zepkala und Swetlana Tichanowskaja längst schon ins Ausland vertrieben wurden, demonstriert Maria Kolesnikowa weiter, tanzt und singt. Ja, sie glaube an den Erfolg, die Protestbewegung werde siegen, sagt sie im spontanen Interview mit der ARD, niemals würde sie das Land verlassen.

Zu Straflager verurteilt

Am Tag nach diesem Interview wird sie von Lukaschenkos Schergen entführen, sie bringen sie zur ukrainischen Grenze, wollen sie aus dem Land werfen. Maria zerreißt ihren Pass, kommt in Untersuchungshaft. Man verurteilt sie zu elf Jahren Haft im Straflager. Sie hätte eine Verschwörung zur verfassungswidrigen Machtergreifung vorbereitet, die nationale Sicherheit gefährdet und eine extremistische Organisation gegründet, heißt es in der Urteilsbegründung.

Geboren wurde Maria Kolesnikowa 1982 in Minsk, dort studierte sie an der Musikakademie Querflöte. Ihr Studium setzte sie an der Musikhochschule Stuttgart fort, Alte und Zeitgenössische Musik war ihr Studienfach. Seit dieser Zeit spricht sie perfekt Deutsch. Sie unterrichtete und organisierte Festivals. Sie sei ein großes musikalisches Talent, erzählt Galina Matjukowa, ihre frühere Flötenlehrerin in Minsk.

Mehrfach prämiert

Und ein Dickkopf, wenn es um Gerechtigkeit geht. "Für sie war das immer wichtig. Und sie sagte, dass sich Kultur in einer unfreien Gesellschaft nicht entwickeln kann. Sie fühlte das auf eine sehr feine Art und Weise und konnte das durch Musik ausdrücken." Seit ihrer Inhaftierung wurde Maria Kolesnikowa mit zahlreichen Preisen geehrt. Darunter auch, gemeinsam mit ihren beiden Mitstreiterinnen, mit dem Aachener Karlspreis 2022. Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier würdigte die drei Frauen: "In Belarus hat der friedliche und noch immer brutal unterdrückte Aufbruch in die Zukunft ein weibliches Gesicht. Als mutige und starke Frauen haben sie der Diktatur die Stirn geboten."

Über Maria Kolesnikowas Haftbedingungen ist nur wenig bekannt. Sicher ist, im Straflager geht es wesentlich härter zu als in einem normalen Gefängnis. Laut Gesetz gibt es täglich 30 Minuten Hofgang, alle drei Monate darf sie ein kleines Paket empfangen. Schikanen sind an der Tagesordnung. Tatsiana Chomitsch sagt, ihre Schwester müsse sechs Tage die Woche Militäruniformen nähen. Für politische Gefangene gebe es viele verschiedene Strafen wie den Ausschluss von Sport- und Unterhaltungsaktivitäten oder den Entzug von Geschenken von Verwandten. Auch müssten politische Gefangene ein spezielles gelbes Emblem tragen, so Chomitsch. "Sie sagten, wenn du politisch bist, dann wirst du das spüren", erzählt eine ehemals in Belarus inhaftierte Frau, die heute im Exil lebt, der britischen BBC. Mit 14 Frauen sei sie in eine Zelle mit vier Betten gesperrt worden. Duschen hätte es keine gegeben, auch keine Zahnbürsten oder Toilettenpapier.

Viele politische Gefangene

Die Proteste in Belarus vor drei Jahren wurden vom Regime brutal niedergeschlagen. Nach UN-Angaben sind derzeit fast 1.500 Menschen aus politischen Gründen inhaftiert. Einige sind bereits in Haft gestorben, so etwa der Künstler Ales Puschkin. Im November letzten Jahres war Maria Kolesnikowa schwer erkrankt, musste wegen eines Geschwürs operiert werden.

Danach wurde sie in die medizinische Abteilung des Straflagers verlegt, wo sie kurz ihren Vater sehen durfte. Es gehe ihr wieder besser, sagte ihre Schwester. Doch jetzt ist Maria verschwunden. Niemand darf sie sehen. Ihre Schwester nicht und auch nicht ihr Vater. "Auf unsere Nachfragen wird geantwortet, dass sie mit niemandem kommunizieren möchte", sagt er. (Jo Angerer aus Moskau, 9.8.2023)