Kolumne Mittel-Alter Pohl Normalität
Das Strandleben von Cesenatico an der italienischen Adria, aufgenommen zur Mitte der 1970er-Jahre: Die Einübung in die elterlich verordneten Urlaubswonnen klappte vorzüglich.
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Jeder ÖVP-Hinweis auf die belebende Kraft der Normalität stößt bei mir wie bei vielen meiner Landsleute auf offene Ohren. Wer wären wir, ob Schnitzel essend oder nicht, wenn wir nicht normal wären?

Mir als verzagtem, kleinem Babyboomer fiel es zum Beispiel von allem Anfang an schwer, das Geschenk des Lebens als Normalität anzusehen. Als ich um zwei Monate verfrüht das Licht der Welt erblickte, vergaß ich, offenbar gebannt von der Schönheit des Kreißsaals, aufs Atmen. Erst ein beherzter Klaps auf das faltige Gesäß soll die Respiration des Frühchens, das ich war, in Gang gesetzt haben. Seither gab es wenigstens in dieser Hinsicht keinerlei Beschwerden.

Aus dem Staunen über das schlechthin Unnormale unserer Welt fand ich nie mehr heraus. Hunderttausende begeisterte Kinder stürmten zu Anbeginn der Ära Kreisky Schulen und Kindergärten: Das Versprechen auf die Aneignung der Welt durch Bildung wirkte wahre Wunder. Nur ich klammerte mich, brüllend und um Hilfe schreiend, an die Kittelschürze meiner Mutter. Zum Besuch eines Klosterkindergartens verdonnert, fand ich rein gar nichts normal: nicht den schmallippigen Verdruss der Schwestern, und schon gar nicht ihre Manier, Übeltäter in finsteren Klosettkabinen einzusperren.

Es bedurfte vieler gewaltiger Sommer, um mich von der Normalität mehrwöchiger Adriaurlaube zu überzeugen: von der prickelnden Annehmlichkeit der Sonnenbrände, von der peinigenden Allgegenwart des Sandes.

Wassereis und Nudeln

Ich schickte mich darein. Mehr noch: Ich empfand an Wassereis und zu weich gekochten Nudeln echtes Vergnügen. Fünf sorglose Saisonen währte die Einübung in die verordneten Urlaubswonnen. Jetzt, beim Wiedersehen von Cesenatico-Valverde nach 48 Jahren, rollten mir dicke Tränen über die Boomer-Backen.

Die royalen Hotelkästen von einst entpuppten sich als bessere Schuhschachteln. Das belebende Nass des Meeres war eine missfarbene, unerquickliche Pfütze. Dafür zeigte das Thermometer fünf Grad Celsius mehr an als 1975. Normal wäre das zu heiß gewesen. (Ronald Pohl, 9.8.2023)