Seit Andrew Wiles, der 1993 nach siebenjähriger geheimer Forschungsarbeit einen über Jahrhunderte gesuchten Beweis für die Fermat-Vermutung fand und dank des Weltbestsellers "Fermats letzter Satz" Berühmtheit erlangte, oder Grigori Perelman, der die Poincaré-Vermutung bewies und sich dem darauf folgenden Medienrummel inklusive aller Ehrungen und Preisgelder entzog, ist bekannt, dass hinter den abstrakten Theorien ausgesprochen bunte Geschichten und Charaktere stehen.

Doch was sich seit etwas mehr als zehn Jahren um den japanischen Mathematiker Shinishi Mochizuki und seinen vorgelegten Beweis der sogenannten abc-Vermutung abspielt, schickt sich an, alle anderen Geschichten an Sonderbarkeit zu übertreffen. Ein neuer Mathematikpreis im Umfang von einer Million Dollar, der auf der Website einer in Gründung befindlichen, auf Onlinestudium spezialisierten Universität ausgeschrieben wurde, stellt die neueste Entwicklung dar. Das Geld, das vom japanischen Telekommunikationsunternehmer gestiftet wird, soll erhalten, wem es gelingt, einen Fehler in dem über 500-seitigen Beweis zu finden.

Mochizuki im Pullover an einem Rednerpult.
Shinishi Mochizuki bei einem Vortrag im Jahr 2013.
Kenichi Unaki / AP / picturedesk

Mächtige Vermutung

Die Geschichte begann 2012 mit einer Ankündigung des Mathematiker Shinishi Mochizuki, der an der Universität Kyoto arbeitet, aber in den USA aufwuchs und studierte: Ihm sei es gelungen, die abc-Vermutung aus dem Jahr 1985 zu beweisen. Sie trägt diesen Namen (statt den ihrer Urheber Joseph Oesterlé und David Masser), weil sie von der einfachen Formel a + b = c handelt. Die Vermutung beschäftigt sich, grob gesprochen, mit der Teilbarkeit von natürlichen Zahlen, die diese Formel erfüllen.

Wie mächtig ein Beweis dieser Vermutung wäre, lässt die Tatsache erahnen, dass der berühmte Beweis der Fermat-Vermutung (für a^n + b^n = c^n gibt es keine ganzzahligen Lösungen, wenn n größer als 2 ist) als Nebenergebnis anfiele. Er wäre dadurch viel einfacher, außerdem ließe sich sogar eine weitergehende, allgemeinere Variante der Vermutung beweisen.

Mochizuki publizierte seinen Beweis als Reihe von Arbeiten auf einem Preprint-Server. Es handelte sich dabei nicht nur um einen Beweis im üblichen Sinn. Die mehrere hundert Seiten füllende Arbeit führte völlig neue mathematische Konzepte ein, die anderen Fachleuten bislang unbekannt waren. Mochizuki gab ihr den Namen "interuniverselle Teichmüller-Theorie".

Eine Veröffentlichung in einem Fachjournal ließ auf sich warten, denn die Fachgemeinschaft der Mathematik hatte Schwierigkeiten, sich über die Korrektheit der Arbeit eine Meinung zu bilden. Überspitzt gesagt: Niemand außer einer kleinen Anhängerschaft Mochizukis verstand den Beweis. Dass dieser Prozess Jahre dauern kann, ist bei mathematischen Arbeiten dieser Größenordnung nicht ungewöhnlich. In diesem Fall vergingen vier Jahre, mehrere Tagungen wurden abgehalten, ohne eine wesentliche Veränderung zu bringen. 2016 trug Mochizuki den Beweis selbst vor 50 Kolleginnen und Kollegen vor, wieder ohne Stürme der Zustimmung auszulösen. Mochizuki drohte, den Beweis im Notfall eben im Fachjournal seiner eigenen Universität zu veröffentlichen, bei dem er selbst Chefredakteur ist.

Die Situation erwies sich zunehmend als untragbar. Beweise sollen schließlich nicht nur über Korrektheit von mathematischen Behauptungen entscheiden, sondern diese Information auch verständlich kommunizieren. Bislang ließ sich die Unfähigkeit, einen Beweis zu verstehen, immer dem Leser oder der Leserin anlasten. Das schien nun nicht mehr haltbar.

Gipfeltreffen in Japan

Es führte dazu, dass sich die deutschen Mathematiker Jakob Stix und Peter Scholze der Frage annahmen. Vor allem Scholze genießt einen ausgezeichneten Ruf. Der 1987 geborene Mathematiker ist Träger der Fieldsmedaille und vieler anderer prestigeträchtiger Preise. Er fiel früh als Wunderkind auf und machte durch eine intuitive Arbeitsweise von sich reden, bei der er weitgehend auf Notizen verzichtet, sondern versucht, alle Probleme im Kopf zu lösen. Seine wichtigste Errungenschaft sind "perfektoide Räume". Stix und Scholze tauchten in Mochizukis Arbeit ein. 2018, in dem Jahr, als Scholze die Fieldsmedaille erhielt, kam es zum Gipfeltreffen zwischen den Spezialisten, über dessen Ablauf Mochizuki genau Aufschluss gibt. Zwischen 15. und 20. März diskutierten die beiden Deutschen mit ihm das Problem in fünf mehrstündigen Treffen in Kyoto. Bis zum Abschluss der Gespräche wurde Stillschweigen vereinbart.

Das Ergebnis war für Mochizuki eine Enttäuschung. Scholze und Stix veröffentlichten einen kritischen Artikel, in dem sie schrieben: "Wir, die Autoren dieser Notiz, sind zu dem Schluss gekommen, dass es keinen Beweis gibt. Wir werden erklären, wo unserer Meinung nach der vorgeschlagene Beweis ein Problem hat, ein so schwerwiegendes Problem, dass unserer Meinung nach kleine Änderungen die Beweisstrategie nicht retten werden." Diese Deutlichkeit ist eher überraschend, manchmal lassen sich Lücken in Beweisen flicken, wie es etwa beim Beweis der Fermat-Vermutung durch Andrew Wiles der Fall war, der zwischen 1993 und 1994 mit einer derartigen Aufgabe beschäftigt war, um seinen Beweis zu retten. Auch bei Mochizuki wurde schon bald nach der Veröffentlichung ein Fehler gefunden, der sich korrigieren ließ. Nun schien es noch ein weit größeres Problem zu geben. Mochizuki allerdings widersprach und sah ein "fundamentales Missverständnis". Er äußert sich dazu auf seiner Website, wo er auch alle Kontaktversuche durch "Massenmedien" abschmettert.

Scholze mit Anzug und Krawatte beim Händeschütteln.
Peter Scholze in Bonn bei einem Empfang anlässlich der Verleihung der Fieldsmedaille.
imago/Klaus W. Schmidt

Das lange Warten auf die Publikation

In der Fachwelt führte das dazu, dass die Beschäftigung mit Mochizukis Beweis langsam einschlief, trotz weiterhin eigens veranstalteter Tagungen zur interuniversellen Teichmüller-Theorie. 2021, vier Jahre nach der Ankündigung, erschien Mochizukis Beweis, und zwar tatsächlich in den "Publications of the Research Institute for Mathematical Sciences", wo Mochizuki Herausgeber ist. An der Begutachtung soll er aber nicht beteiligt gewesen sein.

Nun soll ein neues Mathematikzentrum namens interuniverselles Geometriezentrum, kurz IUGC, Mochizukis Theorie neues Leben einhauchen. Auf der Website der Zen-Universität wird eine Reihe von Aktivitäten angekündigt, darunter ein jährlicher, mit 100.000 bis 200.000 Dollar dotierter Preis für die beste Arbeit zum Thema. Besonders spektakulär ist allerdings der "Challenger-Preis", der mit einer Million Dollar dotiert sein soll und für eine Arbeit bereitliegt, die einen Fehler in Mochizukis Beweis findet.

Für Scholze und Stix muss der Preis als Affront erscheinen, schließlich stellt ihre Arbeit von 2018 nach ihrer Auffassung und jener des Großteils der Mathematikgemeinschaft genau das dar, was die Universität für die Zuerkennung der Million verlangt. In der Ankündigung des Preises, der von Nobuo Kawakami, dem Gründer des japanischen Medienunternehmens Dwango gestiftet wird, steht zu den Kriterien, dass Kawakami über die Zuerkennung selbst entscheiden und die Kriterien dafür nicht öffentlich machen will. Abgesehen davon wird die Veröffentlichung von zehn Fachpublikationen zu arithmetischer Geometrie in den letzten zehn Jahren in gängigen Journalen gefordert. Kawakami ist kein Mathematiker, wie er gerne zugibt. Stattdessen kann er, neben seiner unternehmerischen Erfahrung, eine Anstellung als Produzent beim legendären japanischen Anime-Produzenten Studio Ghibli vorweisen. Im Gegensatz zur Vergabe des Challenger-Preises soll die Vergabe des Preises für die beste Arbeit von einem Fachgremium des IUGC entscheiden werden. Neben der Bildungsstiftung von Dwango ist auch die Nippon Foundation beteiligt, eine gemeinnützige Stiftung, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Einnahmen aus Motorbootrennen in wohltätige Zwecke zu investieren.

Zu dem neuen Preis wollte Scholze auf Anfrage des STANDARD keinen Kommentar abgeben. 2020 äußerte er sich so: "Es ist einfach unmöglich, dass so etwas wie das, was Mochizuki tut, funktionieren kann." In nur einer Handvoll Absätzen macht er sich daran, die Argumente darzulegen. Mochizuki widerspreche sich in Teilen zudem selbst. "Ich bin wirklich frustriert über die derzeitige Situation", schreibt Scholze. Besonders wundere ihn die starke Unterstützung von Mochizukis Position durch das Research Institute for Mathematical Sciences in Kyoto, deren Forschende er sehr respektiere. Scholze sieht die Auseinandersetzung entlang nationaler Grenzen laufen, und "das trifft mich tief ins Herz". (Reinhard Kleindl, 15.8.2023)