Die Vorstellung, was hätte passieren können, ließ niemanden kalt. 300.000 Menschen hatten am 17. Juni bunt und ausgelassen gefeiert, die Regenbogenparade war wie jedes Jahr durch Wien gezogen. Doch heuer soll sie angeblich ein Ziel von Terroristen gewesen sein. Die vermeintliche Gefahr war bei der Feier am Ring niemandem bewusst. Drei verdächtige Jihadisten im Alter von 14, 17 und 20 Jahren wurden festgenommen, noch bevor sich der Festzug in der Hauptstadt in Bewegung gesetzt hatte.

So lautete zumindest die Erzählung des obersten Staatsschützers Österreichs und des Präsidenten der Wiener Polizei tags darauf in einer eilig einberufenen Pressekonferenz. Die Botschaft von Omar Haijawi-Pirchner und Gerhard Pürstl war klar: Die Exekutive habe einen islamistischen Anschlag verhindert.

Aber schon eine Woche nach den Festnahmen mehrten sich Zweifel. Alle drei Verdächtigen, ein Brüderpaar mit bosnischen und ein Gymnasiast mit tschetschenischen Wurzeln, sind wieder auf freiem Fuß. Eine längere U-Haft hielt das Landesgericht St. Pölten nicht für nötig. Die Auflage für die Jugendlichen: ein Deradikalisierungsprogramm. Unlängst befand dann noch das Oberlandesgericht Wien, dass es wohl zu keiner Zeit einen konkreten Anschlagsplan gegeben habe.

War das alles nur Show? Nutzte der Staatsschutzchef seinen Auftritt bloß, um mehr Befugnisse zum Ausspähen von Smartphones zu fordern? War das Vorgehen gegen die Verdächtigen gar überzogen?

Wie konkret die Terrorgefahr war, bleibt noch offen. Das Weltbild der Verdächtigen macht aber einen höchst problematischen Eindruck.

Der oberste Staatsschützer Österreichs, Omar Haijawi-Pirchner.
In der Behörde des obersten Staatsschützers in Österreich, Omar Haijawi-Pirchner, glaubt man weiterhin fest daran, dass das Dreiergespann Anschlagspläne wälzte.
APA/ALEX HALADA

Gefährliche Radikalisierung

"Es kann sein, dass ich eine Bombenbauanleitung darauf habe", gestand der jüngste Verdächtige prompt in seiner ersten Einvernahme, als ihn die Ermittler fragten, was sie auf seinem Handy finden könnten. Das war aber nur ein Teil der Wahrheit.

Mittlerweile wurden acht solcher Anleitungen auf dem Mobiltelefon des Wieners entdeckt. Zudem Chats, in denen er Interesse zeigt, wie man ein Handy als Auslöser für eine Detonation verwenden könne. Und in denen er fragt, ob man auch Metallteile in eine Bombe integrieren könne. Dazu kommt ein großer Teil an Propaganda der Terrororganisation "Islamischer Staat", darunter schaurige Bilder von Getöteten.

Aber: "Ich wollte definitiv keinen Anschlag begehen oder so", beteuerte der 14-Jährige. Das passt zur Beweislage: Belege für einen geplanten Anschlag fehlen. Zutaten für Bomben wurden bei Razzien nicht gefunden. Eine unter dem Bett des Burschen entdeckte Axt soll dessen Vater gehören.

Die entscheidende Kommunikation rund um die angeblichen Anschlagspläne soll in einer Telegram-Gruppe stattgefunden haben. Dort hätten sich internationale IS-Sympathisanten versammelt – und die drei Verdächtigen aus Österreich.

In dem Chat habe der 17-Jährige gegenüber einem anderen Jihadisten einen Anschlag auf die Regenbogenparade in Aussicht gestellt – und dafür in Tschechien eine AK-47 sowie ein großes Messer besorgen wollen, hieß es seitens der DSN. In den Akten fehlt von einem Chat mit derartigem Inhalt aber jede Spur.

Auf den Handys der Brüder aus St. Pölten stießen Ermittler stattdessen bisher vor allem auf Terrorpropaganda. Bei ihnen gefundene Airsoftgewehre seien eine Spielerei gewesen, sagte einer der Männer aus. Einen entdeckten Wurfstern und eine Luftdruckpistole reklamierte der Vater der zwei Brüder für sich. Und: Obendrein ist fraglich, ob die beiden den dritten Verdächtigen überhaupt kennen.

Diskussion um Enthaftung

Aber wie kann es wiederum sein, dass ein offenbar radikalisierter 14-Jähriger auf freiem Fuß ist, obwohl er zig Bombenbaupläne gesammelt und sich mit einem einschlägigen Kontakt sogar darüber ausgetauscht hat? Dies ist im Gegensatz zu den Vorwürfen gegen den 17-Jährigen gut dokumentiert. Das allein könnte immerhin schon eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren nach sich ziehen.

Dafür muss man das Dilemma der Staatsschützer verstehen. Die Hinweise zu den angeblichen Anschlagsplänen kamen von einem Dienst aus dem Ausland. Die Informationen waren nicht "gerichtsverwertbar". Außerhalb des Staatsschutzes durfte sie also niemand einsehen – auch nicht die Justiz. Das heißt: Chats, Bilder und Dateien mussten die Ermittler erst über die sichergestellten Smartphones der Verdächtigen ausheben. Viele brisante Details waren erst nach Enthaftung der Burschen ein "greifbarer" Teil des Ermittlungsakts.

Vor allem, dass der Jüngste aus der U-Haft entlassen wurde, sorgt unter Juristen für Debatten. Der richtige Tipp aus dem Ausland, wonach der 14-Jährige im Besitz von Sprengstoffanleitungen sei, hätte für eine längere U-Haft ausreichen müssen, sagen die einen. Die anderen verstehen die Entscheidung des Gerichts: Der mutmaßliche Jihadist wurde wegen seines sehr jungen Alters und den intakten sozialen Bindungen in der Schule und der Familie freigelassen. Immerhin können Gefängnisse gefährliche Treiber für Radikalisierung sein.

Aktion gerechtfertigt

Selbst wenn sich der Konnex zu den Anschlagsplänen nicht ergeben sollte, hält der deutsche Terrorexperte Peter Neumann das Vorgehen des Staatsschutzes für gerechtfertigt. "Ich glaube nicht, dass es sich die Polizei eines Landes leisten kann, dem nicht nachzugehen. Die allermeisten Anschlagspläne in Deutschland wurden durch Hinweise aus dem Ausland, meist aus Amerika, aufgedeckt", sagt er. "Wenn was passiert, fragen sich alle, warum der Anschlag nicht verhindert werden konnte." Die potenzielle Gefahr sei stärker zu gewichten als die wenigen Tage, die Verdächtige in U-Haft verbrächten. Die andere Frage sei, ob die Behörde daraus "eine riesige Geschichte" hätte machen müssen.

Für die Staatsschützer ist diese Geschichte jedenfalls noch nicht fertig erzählt. Sie haben die Fährte in Richtung mutmaßlicher Terrorpläne im Gegensatz zum Oberlandesgericht noch nicht aufgegeben. (Jan Michael Marchart, 9.8.2023)