Die Chinesen werden reicher. Das wurden sie nicht nur statistisch in den vergangenen drei Jahrzehnten, nein, ihre Kaufkraft hat sich in diesem Quartal im Vergleich zum Vorjahr um 0,3 Prozent erhöht. Wie das Statistikamt in Peking am Mittwoch mitteilte, sind die Verbraucherpreise gefallen.

Anders als die allermeisten westlichen Volkswirtschaften kämpft China aktuell nicht mit einer Inflation, sondern mit dem Gegenteil: der Deflation. Diese hat zwar für die Verbraucher und Sparer den angenehmen Effekt, dass alles billiger wird. Für Ökonomen aber ist die Deflation ein Schreckgespenst. Gemäß der reinen Lehre führen fallende Preise dazu, dass Verbraucher Konsumentscheidungen aufschieben – in der Hoffnung, dass die Preise noch weiter sinken. In der Folge wird weniger gekauft, weswegen die Unternehmen weniger produzieren, eventuell Leute entlassen und so eine gesamte Volkswirtschaft in die Rezession rutscht.

Ein strukturelles Problem

Und tatsächlich hat die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt aktuell ein strukturelles Problem. Der Immobilienkonzern Country Garden wollte eigentlich am vergangenen Montag neues Geld an der Börse in Hongkong besorgen. 300 Millionen US-Dollar sollten durch die Ausgabe neuer Aktien herangeschafft werden. Blöd nur, dass am selben Tag die 100 größten Immobilienunternehmen des Landes neue Zahlen veröffentlichten: Die Verkäufe neuer Wohnungen waren um ein Drittel gefallen im Vergleich zum Vorjahr. Country Garden verzichtete zunächst auf die Ausgabe neuer Aktien – die Kurse nämlich rasselten wegen der schlechten Nachrichten in den Keller.

Eine Mall in Peking: Viele Ökonomen fürchten Deflation als Gift für den Konsum, weil Menschen Konsumentscheidungen aufschieben - in der Hoffnung, dass die Preise weiter sinken
Eine Mall in Peking: Viele Ökonomen fürchten Deflation als Gift für den Konsum, weil Menschen Konsumentscheidungen aufschieben– in der Hoffnung, dass die Preise weiter sinken.
EPA/MARK R. CRISTINO

Die aktuelle wirtschaftliche Misere Chinas ist untrennbar mit der Situation auf dem Immobilienmarkt verwoben. Mindestens 30 Prozent der Wirtschaftsleistung macht der Sektor aus. Nirgendwo sonst auf der Welt entwickelte sich die Urbanisierung in solch einer Rasanz. Rund eine halbe Milliarde Chinesen zog in den vergangenen 30 Jahren vom Land in die Stadt.

Hinzu kommt: Chinesen bleibt kaum eine andere Anlagemöglichkeit als eine Immobilie. Der Aktienmarkt gilt als riskante Zockerbude, die staatlichen Renten sind niedrig, und Kapitalverkehrskontrollen verhindern, dass das Geld im Ausland angelegt wird. Also setzte jeder, der zu etwas Geld gekommen war, auf eine eigene Wohnung, vielleicht auch zwei oder drei. Rund 30 Jahre lang stiegen die Preise ja auch jedes Jahr kräftig.

Durch die scheinbare Garantie auf Wertsteigerung aber begann sich die Branche immer schneller zu drehen: Immobilienunternehmen wie Evergrande nahmen immer mehr Schulden auf, um fachfremde Investitionen wie in Fußballclubs zu tätigen. Die Verschuldung nahm immense Formen an: Während der chinesische Staat, anders als viele westliche Regierungen, nur mit knapp 50 Prozent der Wirtschaftsleistung verschuldet ist, liegt das Verhältnis bei den Unternehmensschulden bei 160 Prozent.

"Unmöglich, Schulden zu ignorieren"

Dies hatte zwar jahrelang für gute Wachstumszahlen gesorgt, "aber irgendwann wurde es unmöglich, die Schulden zu ignorieren", so der Ökonom Michael Pettis am Mittwoch auf Twitter. Die Regierung entschloss sich vor knapp zwei Jahren, diesen Berg abzubauen. Das bedeutet: eine sich verlangsamende Wirtschaft, mehr Arbeitslose, fallende Preise – ein klassisches Deflationsszenario, das viele Ökonomen so fürchten.

Hinzu kommen geopolitische Spannungen und die Covid-Politik der vergangenen Jahre. Die Lockdowns und Ausgangssperren führten dazu, dass zahlreiche Restaurants und kleinere Geschäfte aufgeben mussten. Der Servicesektor brach ein.

De-Coupling und De-Risking

Das von den USA angestoßene "De-Coupling" und das von der EU in abgeschwächter Form aufgenommene "De-Risking" haben außerdem dazu geführt, dass die Direktinvestitionen in China regelrecht eingebrochen sind. Wurden trotz Zero-Covid-Politik von 2019 bis 2022 zwischen 60 und 100 Milliarden US-Dollar pro Quartal in China investiert, waren es im zweiten Quartal dieses Jahres gerade einmal fünf Milliarden.

Möglich, dass der Tiefpunkt schon erreicht ist. "Ich vermute, dass Peking für den Rest des Jahres alles tun wird, um die Wirtschaftsaktivität anzukurbeln", so Ökonom Pettis. Das Problem ist nur: Jedes Konjunkturpaket würde wiederum die Schuldenquote erhöhen – also genau das, was Peking eigentlich vermeiden möchte. (Philipp Mattheis aus Peking, 9.8.2023)